Kein Sprachverfall durch SMS und Chats?

Abkürzungen, Kleinschreibung, fehlende Artikel sowie verkürzte Syntax charakterisieren die schriftlichen Unterhaltungen von heute. Geschmückt sind die Unterhaltungen oftmals mit Smileys. Lange ist man davon ausgegangen, dass Chats, SMS, Nachrichten auf Facebook sowie Twitter und Kurznachrichten bei WhatsApp die genormte Schriftsprache über Bord werfen. Bislang gibt es allerdings keine einzige Studie, die den häufig vermuteten Sprachverfall untermauern würde.

Bereits seit Jahrzehnten beschäftigen sich Sprachwissenschaftler mit den neuen Medien und der Schriftsprache. Dabei haben sie die Zeitformen der Verben, die Syntax und auch die Rechtschreibung näher unter die Lupe genommen. „Eine Zeit lang ging man davon aus, dass in der Chatkommunikation im Gegensatz zum mündlichen Gespräch etwas fehlt“, so Georg Albert (Bild rechts) von der Universität Landau, „und dass diese fehlende Verständigungsebene von den Nutzern unter anderem mit Emoticons aufgefüllt werden müsse.“ Ganz so eindeutig sei die Sache allerdings nicht, meint der Wissenschaftler. Smileys führen längst ein ästhetisches Eigenleben.

Der andere Pol der Forschung vertritt jedoch die Ansicht, dass diese Entwicklung auf die Geschwindigkeit zurückzuführen sei. Die Wortabkürzungen, Kleinschreibung oder unvollständigen Sätze entstünden insbesondere aus Platzmangel. In einer SMS kann schließlich nur ein begrenztes Zeichenvolumen ausgenutzt werden. Ein weiterer Grund liege darin, dass die Schnelligkeit der Dialoge keine Zeit für korrekte Schreibweisen lasse.

Georg Albert widerspricht allerdings diesem Standpunkt: „Viele Stilmerkmale sprechen gegen die Geschwindigkeitsthese.“ Die Nutzer lieben es beispielweise, ellenlang Ausrufezeichen oder Buchstabenwiederholungen aneinanderzureihen. „Andere schreiben absichtlich im Dialekt, obwohl es länger dauert, die Worte zu tippen. Und sie auch für das Gegenüber schwerer lesbar sind.“ Es gehe vor allem darum, unterhaltsam zu schreiben, so Alberts These. „Die Schreibenden setzen Markierungen, wie sie einen Text verstanden wissen wollen“, erklärt Albert.

Vielen Nutzern macht das Experimentieren mit den Buchstaben und Zeichen Spaß. „Da wird Kreativität mit der Tastatur ausgelebt“, berichtet Albert. Es könne aber nicht davon die Rede sein, dass wilde Regellosigkeit herrsche. „Ihre jeweiligen Konventionen handeln die verschiedenen sozialen Gruppen permanent neu aus.“ Die Nutzer gehen mit der Zeit. Auf diese Weise verändere sich auch ihre Schreibweise. Stilmittel wie *grins* zum Beispiel gelten heutzutage als altbacken. Seit zwei, drei Jahren sind die Sternchen-Ausdrücke zum größten Teil verschwunden. „In den siebziger Jahren haben Schüler mit Vorliebe comicsprachliche Ausdrücke wie ächz, würg, stöhn benutzt“, sagt Beate Henn-Memmesheimer (Bild rechts), Linguistikprofessorin an der Universität Mannheim.

„Die Schriftsprache differenziert sich zunehmend aus“, so Henn-Memmesheimer. Die meisten Nutzer passen ihre Schreibweise und ihren Stil an die Person, mit der sie kommunizieren, sowie an die Situation an. Morgens im Büro werde korrektes Hochdeutsch gesprochen, nachmittags werden auf Twitter möglichst kurzsilbige Pointen geschrieben und abends versinke man dann im Chat mit schluderigem Redeschwall. „Man könnte deshalb sogar von einer gestiegenen Schriftkompetenz sprechen“, berichtet die Linguistin.

Das erfordert viel Fingerspitzengefühl und eine hohe soziale als auch sprachliche Kompetenz. „Natürlich beherrschen nicht alle Nutzer diesen souveränen Umgang mit Sprache“, sagt Henn-Memmesheimer. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen seien für die Standardsprache, wie sie in der Schule vermittelt werde, wenig empfänglich. „Wenn Jugendliche sehr von solchen Gruppen beeinflusst sind, verweigern sie es, die Standardsprache zu lernen, weil sie sich bei ihren Freunden damit lächerlich machen würden.“

Es zeichne sich jedoch ein Trend ab: eine „größere Standardnähe“ rücke in den Vordergrund. „Das hat mit dem Wunsch nach vorteilhafter Selbstdarstellung im Netz zu tun“, erklärt die Linguistikprofessorin. „Seit das soziale Netzwerk vielen Nutzern als privates und berufliches Aushängeschild dient, wird dort in vielen Kreisen wieder mehr Wert auf ‚ordentliches‘ Deutsch gelegt.“

[Text: Jessica Antosik. Quelle: zeit.de, 14.01.2013. Bilder: uni-koblenz-landau.de; germanistik.uni-mannheim.de.]