Eine 39-jährige Britin begibt sich in ärztliche Behandlung, weil sie seit einigen Monaten unter Sprachfindungsstörungen leidet. Diese treten nur auf, wenn sie versucht, Englisch zu sprechen. In ihrer Muttersprache Walisisch kann sie sich hingegen nach wie vor fließend und fehlerfrei artikulieren. Die Beschwerden setzten nach der problemlos verlaufenen Geburt ihres Kindes ein.
Einen Schlaganfall können die Mediziner rasch ausschließen. Bei der Untersuchung der Blutwerte stoßen sie jedoch auf Auffälligkeiten: Der Spiegel des Schilddrüsenhormons Thyroxin ist deutlich erniedrigt, außerdem scheint die Schilddrüse entzündet zu sein.
Sie verabreichen der Patientin Thyroxin, um die Unterfunktion der Schilddrüse zu kompensieren. Sechs Wochen nach Behandlungsbeginn ist der Hormonhaushalt in Ordnung und die Frau ist wieder in der Lage, fließend Englisch zu sprechen.
Es wird vermutet, dass bei der Waliserin durch den Hormonmangel die für die Sprechfunktion zuständigen neuronalen Netzwerke im Gehirn gestört wurden. Dass nur die Zweit-, nicht aber die Erstsprache betroffen war, dürfte daran liegen, dass unterschiedliche Sprachen in verschiedenen Regionen der Großhirnrinde gespeichert werden.
Das Phänomen, dass bei neurologischen Störungen die Sprachen mehrsprachiger Patienten in der umgekehrten Reihenfolge ihres Erlernens beeinträchtigt werden, ist bekannt und wurde auch bei Schlaganfällen, Gehirnentzündungen, Epilepsie und Demenz beobachtet. Da die Muttersprache am tiefsten „verankert“ ist, bleibt sie am längsten erhalten.
Im Zusammenhang mit einer Schilddrüsenentzündung bzw. -unterfunktion ist diese Beobachtung jedoch neu.
Ein ausführlicher Artikel über den Fall ist in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschienen. Auf Spiegel Online findet sich in der Artikelreihe „Ein rätselhafter Patient“ unter der nicht ganz zutreffenden Überschrift „Sprachlos nach der Schwangerschaft“ eine Zusammenfassung.
Richard Schneider