Mehr Demokratie wagen! Briefwahl und Online-Abstimmungen statt Anwesenheitszwang

Online-Abstimmung
Online-Abstimmungen bieten die Möglichkeit, jedem einzelnen Verbandsmitglied das Wahlrecht nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich einzuräumen (Bild: ojogabonitoo / Fotolia).

Zurzeit finden, wie stets im Frühjahr, die Jahresmitgliederversammlungen (JMVs) der Übersetzerverbände statt. Man trifft sich, um aktuelle Fragen zu besprechen, Entscheidungen zu fällen und Kandidaten in Vorstandsposten zu wählen.

Abstimmen darf in der Regel nur, wer persönlich in der Versammlung anwesend ist. Allen anderen – und das sind typischerweise 95 % der Mitglieder – wird die Ausübung ihrer Rechte verwehrt. Denn Mitgliederversammlungen sind seit jeher – vor allem in den Flächenländern – schlecht besucht. Sind auch nur 5 % der Mitglieder anwesend, gilt dies schon als sensationell guter Wert.

Einige Beispiele:

  • JMV BDÜ NRW 2008: Anwesend sind 18 Personen von damals 760 Mitgliedern (2,3 %).
  • JMV BDÜ Bremen und Niedersachsen 2009: 18 von damals ca. 400 Mitgliedern (4,5 %).
  • JMV BDÜ Hessen 2009: „sehr gut besucht“, Zahl wird verschwiegen, Foto zeigt 30 von ca. 600 Mitgliedern (5 %).
  • JMV BDÜ Bayern 2011: 63 von 1.400 Mitgliedern (4,5 %).

Erfreuliche Ausnahmen:

  • JMV VÜD 2011: 22 von 160 (14 %).
  • MJV ADÜ Nord 2013: „Von den 359 ADÜ-Nord-Mitgliedern waren 41 anwesend und vertraten weitere 32 Mitglieder per Vollmacht, so dass sich eine Stimmenpräsenz von 73 (etwa 20 Prozent der Mitglieder) ergab.“
  • Der VKD (Verband der Konferenzdolmetscher innerhalb des BDÜ) verzeichnet traditionell eine sehr hohe Anwesenheitsquote bei seinen Jahresmitgliederversammlungen.

Ein Sonderfall ist der BDÜ-Bundesverband, der nur 13 Mitglieder hat (12 Landesverbände plus VKD). Deren Delegierte sind stets vollzählig anwesend.

Präsenzwahlrecht funktioniert nur in Stadtstaaten

Das Prinzip, dass nur abstimmen darf, wer persönlich erscheint (Präsenzwahlrecht), funktioniert eigentlich nur in Stadtstaaten wie Hamburg (ADÜ Nord) oder Ballungsräumen wie Berlin (VÜD). Dort ist die Beteiligung deutlich höher und in der Regel zweistellig, weil der Großteil der Mitglieder in derselben Stadt wohnt. Ausreichend oder befriedigend ist eine solche Beteiligung aber immer noch nicht.

Kann man bei Wahlbeteiligungen von 3 bis 5 Prozent überhaupt von einem demokratischen Vorgang sprechen? Welche Legitimationskraft haben solche Wahlen?

Der Vorstand sollte von solchen Kaffeekränzchen grundsätzlich nicht gewählt werden dürfen. Denn schon die mittelgroßen BDÜ-Landesverbände verfügen über ein Jahresbudget von fast Hunderttausend Euro. Die Entscheidung darüber, wem man dieses Geld anvertraut, sollte auf eine möglichst breite demokratische Grundlage gestellt werden.

Persönliche Anwesenheit für viele Mitglieder unzumutbar

Kann man erwarten, dass mehrere Hundert oder Tausend berufstätige und familiär eingebundene Menschen einmal im Jahr zu einem willkürlich festgelegten Termin an einem bestimmten, unter Umständen 300 km entfernten Ort erscheinen? Nur um über Dinge zu befinden, die ihnen egal sind oder die sie auch aus der Ferne hätten entscheiden können?

Nein, und deshalb kommen von 500 Mitgliedern auch allenfalls 25. Nämlich die Seilschaft der aktuellen Amtsinhaber nebst Unterstützern sowie einige Ahnungslose, die an dem Wochenende gerade nichts Besseres vorhaben.

Missstand ist bekannt, aber es wird nichts dagegen unternommen

Alle Verbandsaktivisten wissen um den Missstand der geringen Wahlbeteiligung. Alle haben ein schlechtes Gewissen wegen der mangelnden demokratischen Legitimierung der dort getroffenen Entscheidungen, aber niemand schlägt Alternativen vor – wie etwa die Briefwahl oder elektronisch durchgeführte Abstimmungen.

tekom zeigt, dass Demokratie möglich ist – per Briefwahl

Briefwahlunterlagen der tekom
Briefwahlunterlagen der tekom.

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der tekom (Gesellschaft für technische Kommunikation). Der Berufsverband der technischen Autoren, Redakteure, Illustratoren und Übersetzer ist mit 8.250 Mitgliedern ähnlich groß wie der BDÜ (rund 7.500 Mitglieder).

Dort gibt es nur einen einzigen Vorstand (nicht 14 wie beim BDÜ), der von allen Mitgliedern gewählt wird. Jedes einzelne der 8.250 Mitglieder kann selbst kandidieren oder einen Kandidaten vorschlagen. Jedes einzelne der 8.250 Mitglieder kann bei der Wahl des Vorstands seine Stimme abgeben. Und zwar per Briefwahl, die exakt so funktioniert wie bei Bundestagswahlen.

tekom-JMVs mit mehreren Hundert Mitgliedern

Auch die tekom kennt selbstverständlich Jahresmitgliederversammlungen. Sie finden dann statt, wenn möglichst viele, nämlich mehrere Tausend Mitglieder ohnehin schon aus anderem Anlass versammelt sind – auf der alljährlichen Herbsttagung. Zu dieser reisen typischerweise rund 3.500 Mitglieder an.

Natürlich nehmen längst nicht alle Tagungsteilnehmer an der JMV teil. Aber es sind doch immer mehrere Hundert Leute, die den jeweiligen Saal in einem Kongresszentrum gut füllen.

Die Jahresmitgliederversammlungen der Übersetzerverbände könnten hingegen im Hinterzimmer einer jeden beliebigen Kneipe stattfinden, denn allenfalls bei den großen Verbänden mit mehr als 1.000 Mitgliedern kommen mehr als 20 Leute zusammen.

Mehr Demokratie wagen

Siebzig Jahre nach Neugründung der Übersetzerverbände wäre es eigentlich an der Zeit, „mehr Demokratie zu wagen“ (um Willy Brandt zu zitieren) und jedem einzelnen Mitglied eine Ausübung seines Wahlrechts ohne Verdienstausfall und Reisekosten zu ermöglichen.

Neben der seit Jahrzehnten erprobten und bewährten (aber wegen der Portokosten teuren) Briefwahl existieren für diesen Zweck inzwischen auch Möglichkeiten der Online-Abstimmung. Es gibt Dienstleister, die eine rechtssichere Durchführung garantieren (z. B. Polyas).

Natürlich ist ein solches Prozedere aufwändig. Und auch ein aus der Ferne ausübbares Wahlrecht würde längst nicht von allen Mitgliedern wahrgenommen. Hinzu kommt, dass oft nur ein einziger Kandidat für ein Amt zur Verfügung steht.

Dennoch sollte es eine demokratische Selbstverständlichkeit sein, jedem zahlenden Mitglied diese Mitwirkungsmöglichkeit einzuräumen.

Bei den Amtsträgern fehlt aber offenbar der Wille – und der Basis scheint es egal zu sein.

Dokumentation Briefwahlunterlagen tekom

Um den Funktionären der Übersetzerverbände einmal einen Einblick in unbekannte Welten zu ermöglichen, haben wir unter dem folgenden Link beispielhaft die Briefwahlunterlagen der tekom aus dem Jahr 2013 eingescannt (PDF-Datei, 9 Seiten):

[Text: Richard Schneider. Bild: debert / Fotolia, Richard Schneider.]