Die Schweizer Boulevardzeitung Blick hat ihrer Leserschaft am 06.08.2014 als „Seite-1-Girl“ und „Star des Tages“ eine Angehörige unserer Berufsgruppe vorgestellt. „Dolmetscherin Anna“ sei 25 Jahre alt, im Sternzeichen Widder geboren, 1,80 Meter groß und wiege 73 kg.
Die junge Frau sei ein „Sprach-Genie“, heißt es in der Überschrift. Welche Idiome Anna beherrscht, wird allerdings nicht mitgeteilt. Das ist schade, scheint sie doch auf Jobsuche zu sein. Ein hinter ihr aufgestelltes Flipchart mit der Aufschrift „Willkommen!“ und „Добро пожаловать!“ lässt allerdings vermuten, dass Anna russische Muttersprachlerin ist.
Bei Schokolade werde sie schwach und an sich selbst möge sie ihre langen Beine, heißt es im wenig informativen Begleittext. Hinweise auf weitere B- und C-Sprachen, berufsqualifizierende Abschlüsse, übersetzerische Fachgebiete und eingesetzte Translation-Memory-Tools fehlen vollständig.
Stattdessen werden in einer Diaschau 7 Bilder von Anna gezeigt. Nur auf einem ist sie vollständig bekleidet und könnte durchaus als Dolmetscherin durchgehen. Die anderen zeigen die junge Kollegin aus diversen Blickwinkeln, wie sie sich auf einem Bürotisch räkelt. – In schwarzen Dessous, roten High Heels und einem Accessoire, das Rätsel aufgibt: einer Reitgerte.
Wäre nicht die Brille mit dem kräftigen Gestell, die Anna einen intellektuellen Touch verleiht, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um unanständige Fotos handelt.
Was treibt eine junge Kollegin dazu, sich so zu präsentieren? Ein auf derselben Seite untergebrachtes Werbebanner legt die Vermutung nahe, dass es sich um eine unüberlegte Jugendsünde der Kategorie „ich war jung und brauchte das Geld“ handelt.
„Werde Star des Tages! Für jedes Shooting gibts 300 Franken Sackgeld! Hier bewerben!“, ist dort zu lesen. (Die 300 Franken entsprechen 247,50 Euro und das schweizerische „Sackgeld“ heißt in Deutschland „Taschengeld“.)
Nur 247,50 Euro! Weiß die junge Frau nicht, dass sie mit einem einzigen Halbtageseinsatz als Dolmetscherin mehr verdienen kann? Dass die Übersetzungs- und Dolmetschhonorare in der Schweiz die höchsten der Welt sind? Weiß sie nicht, dass Dolmetschverbände Mentorenprogramme eingerichtet haben, um jungen Menschen wie ihr den Berufseinstieg zu erleichtern?
[Text: Richard Schneider. Quelle: Blick.ch, 2014-08-06. Screenshot: Richard Schneider.]