Tageszeitung Die Welt kritisiert „die gefährlich große Macht der Asyl-Dolmetscher“

Unter der Überschrift „Die gefährlich große Macht der Asyldolmetscher“ beschreibt Virginia Kirst für die Tageszeitung Die Welt einen zentralen Missstand, der in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise offen zutage tritt.

Gesprächspartner sind ein nicht namentlich genannter Personalrat des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Monika Eingrieber (BDÜ-Vizepräsidentin), Ulla Struck (Beiratsmitglied im DVÜD), Reinhard Pohl (Herausgeber und Branchenaktivist aus Kiel) und Bernd Mesovic (stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl).

Dabei werden sechs Problemstellen ausgemacht:

(1) Die Dolmetscher haben zu viel Macht

„Der Dolmetscher hat eine unkontrollierbare Macht bei diesen Gesprächen, denn er ist der einzige, der alle Anwesenden versteht – und überraschenderweise der einzige, den der Staat nicht streng auf bestimmte Kriterien überprüft“, so die Zeitung.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lasse beim Einsatz der (Laien-)Dolmetscher Qualitätsstandards vermissen. Ein Mitglied des Personalrats der Behörde weist darauf hin, dass die Rechtsstaatlichkeit bei der Bearbeitung von Asylanträgen nicht mehr gegeben sei. Er wird mit den Worten zitiert: „Letztlich wird diesen Dolmetschern alleine die Prüfung des Asylgesuchs […] überlassen.“

Dies sei besonders bei der Prüfung der Herkunft offensichtlich. Das Innenministerium schätzt, dass sich zurzeit rund 30 Prozent der Einwanderer fälschlicherweise als Syrer ausgeben, „um eine Bleibeperspektive mit der Möglichkeit des Familiennachzugs et cetera zu erhalten“, wie es der Personalrat formuliert. Das Ministerium verweist aber auf strenge Kontrollen, die solche Betrugsfälle aufdecken sollen.

De facto fänden solche Kontrollen aber nicht statt, so der BAMF-Personalrat. Syrer sei derzeit, wer sich „schriftlich im Rahmen einer Selbstauskunft als Syrer bezeichnet“, also im Fragebogen an der richtigen Stelle ein Kästchen ankreuze. Wenn der Dolmetscher, der in der Regel weder vereidigt sei noch aus Syrien komme, dies bestätige, sei die Sache erledigt.

(2) BAMF hat keine Qualitätsstandards

BDÜ-Vizepräsidentin Monika Eingrieber empfiehlt dem BAMF, ausschließlich qualifizierte Berufsdolmetscher zu verpflichten. Allerdings räumt sie selbst ein, dass es diese für die gegenwärtig benötigten Sprachen nicht oder nicht in ausreichender Zahl gebe. Es sei daher dringend notwendig, entsprechende Ausbildungsgänge einzurichten.

Das BAMF erklärt, die wenigen Dolmetscher mit staatlichen Abschlüssen und gerichtlicher Vereidigung zumindest „prioritär“ einzusetzen.

(3) Keine Sanktionen für falsches Dolmetschen

Die Journalistin kritisiert, dass Dolmetscher, die mangels Qualifikation und Erfahrung oder bewusst falsch übersetzen, „keine Konsequenzen“ zu fürchten haben. Schlimmstenfalls erhielten sie lediglich keine weiteren Aufträge vom BAMF.

Ulla Struck, Beiratsmitglied im DVÜD, verweist darauf, dass Mitglieder der Berufsverbände verpflichtet sind, den Ehrenkodex der Organisation einzuhalten. Wer dem nicht folge, werde aus dem Verband ausgeschlossen. (Nach Beobachtungen von Uepo.de sind Verbandsausschlüsse wegen Fehlverhaltens äußerst selten. Ausschlüsse erfolgen in der Regel, weil Mitglieder ihre Beiträge nicht bezahlen.)

(4) Schlechte Bezahlung der Dolmetscher

Laut Welt bzw. Reinhard Pohl erhalten Laiendolmetscher beim BAMF „Stundenhonorare zwischen 25 und 32 Euro“, also deutlich weniger als Gerichtsdolmetscher, die nach JVEG (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz) mit mindestens 70 Euro pro Stunde vergütet werden.

Das BAMF verweist jedoch darauf, dass Einsätze bei der Behörde in der Regel deutlich länger dauern als die zwar besser bezahlten, aber stets nur kurzen Einsätze vor Gericht. Viele Sprachmittler würden außerdem „die offene Atmosphäre beim Bundesamt“ schätzen.

(5) Schlechte Dolmetschqualität durch Zeitdruck

Reinhard Pohl wird mit den Worten zitiert: „Beim BAMF geht es um Ergebnisse, nicht um Qualität. Die Entscheider achten nicht auf saubere Berufsausübung durch die Dolmetscher, weil sie unter großem Zeitdruck arbeiten.“

Dies könne, so die Zeitung, negative Auswirkungen für beide Seiten haben. Eine ungerechtfertigte Ablehnung des Asylantrags sei ebenso denkbar wie eine ungerechtfertigte Bewilligung.

(6) Flüchtlinge sitzen am kürzeren Hebel

Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl, sieht die Flüchtlinge am kürzeren Hebel sitzen. Diese würden oft erst dann merken, dass ihre Angaben falsch oder fehlerhaft übersetzt wurden, „wenn sie sich die Ablehnung ihres Asylantrags mit einem Dolmetscher und einem Anwalt anschauen“.

Unser Kommentar: Endlich mal ein gut recherchierter Artikel!

Kompliment! Da hat eine Journalistin tatsächlich einmal gründlich recherchiert, die richtigen Ansprechpartner gefunden, intensiv nachgedacht und die Lage zutreffend beschrieben. Ein echter Lichtblick in der ansonsten eher von Vernebelung und Meinungsmache geprägten deutschen Medienlandschaft.

Ja, die Zustände sind desolat – aber nicht nur in Sachen Dolmetschen. Dasselbe Chaos herrscht bei allen anderen Stellen, die sich redlich bemühen, die „Flüchtlingskrise“ zu bewältigen (Polizei, Hilfsorganisationen, Stadtverwaltungen, Gerichte).

Die Verantwortung für die offensichtlichen Missstände, die aber angesichts der Zahl der ins Land strömenden Menschen nicht behebbar sind, liegt nicht bei den sich aufopferungsvoll und zumeist ehrenamtlich engagierenden Helfern und Dolmetschern.

Sie ist vielmehr ganz oben in der politischen Hierarchie zu suchen. Dort wurde entschieden, rechtsstaatliche Grundsätze über Bord zu werfen, Gesetze und EU-Verträge zu ignorieren und etwas „schaffen“ zu wollen, was beim besten Willen nicht zu schaffen ist.

Exkurs: „Sprachmittler“ gleich Laiendolmetscher?

Terminologische Missverständnisse offenbart der Artikel in Bezug auf den Ausdruck „Sprachmittler“. Sowohl Reinhard Pohl als auch die Journalistin verstehen darunter offenbar einen unqualifizierten Laiendolmetscher.

Der in der Allgemeinheit unbekannte Ausdruck „Sprachmittler“ hat in der Fachöffentlichkeit der Berufsgruppe eine lange, wenn auch vergessene Geschichte. Viele glauben, es handle sich um einen DDR-Terminus, aber er existierte schon viele Jahrzehnte vor Gründung des „Arbeiter- und Bauernstaats“. Heute gilt er als praktischer Oberbegriff zu den Tätigkeitsformen „Dolmetscher“ und „Übersetzer“.

Wer zwischen qualifizierten und formal unqualifizierten Dolmetschern unterscheiden möchte, kann sich an der Sprachregelung der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen (RfD) orientieren. Zwischen 1933 und 1945 wurden die Qualifizierten als „Sprachmittler“, „Dolmetscher“ oder „Übersetzer“ bezeichnet, die Unqualifizierten hingegen lediglich als „Sprachkundige“. Das war in den Mitgliedsausweisen der RfD, die als eine Art Kammer fungierte, entsprechend vermerkt.

Weiterführende Links

[Text: Richard Schneider. Quelle: Die Welt, 2015-11-27.]