Die französische Autorin Shumona Sinha und ihre Übersetzerin Lena Müller sind vom Berliner Haus der Kulturen der Welt mit dem „Internationalen Literaturpreis 2016“ ausgezeichnet worden.
Die Preisverleihung fand am 25.06.2016 im Rahmen der Lese- und Diskussionsveranstaltung „Ausweitung der Lesezone“ im Haus der Kulturen der Welt statt.
Der Internationale Literaturpreis ist mit 20.000 Euro für die Autorin und 15.000 Euro für die Übersetzerin dotiert.
Die Auszeichnung wird seit 2009 vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen (Hamburg) verliehen. Das Haus der Kulturen der Welt wird durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie durch das Auswärtige Amt gefördert.
Auszeichnung für Roman „Erschlagt die Armen!“
Die Jury begründet ihre Wahl für Sinhas Roman „Erschlagt die Armen!“ wie folgt:
Die diagnostische Kraft der Literatur: Dieser Roman ist im Original 2011 erschienen und weit mehr als ein Kommentar zur aktuellen Lage. Die in Kalkutta geborene und seit 15 Jahren in Paris lebende Autorin evoziert in einer ebenso wütenden wie poetischen und präzisen Suada ein Drama unauflösbarer Verwicklungen: Es treten Geflüchtete mit ihrer inneren Not, all ihren biographischen Brüchen auf und Beamte einer Asylbehörde mit ihrer inneren Distanz.
Der Monolog der Ich-Erzählerin – Dolmetscherin in einer französischen Asylbehörde – vermeidet den paternalistischen Blick wie auch xenophobische Paranoia. In ihrer Zwischenstellung im Niemandsland der Sprachen, Kategorien und Weltverständnisse führt sie unnachgiebig vor, was passiert, wenn die Wahrheit nicht ins Schema passt.
Die Übersetzerin Lena Müller hat die raue Prosa Sinhas mit ihren ungebärdigen, die Wirkmacht der Sprache auslotenden poetischen Widerhaken kraftvoll ins Deutsche gebracht.
Der Jury 2016 gehören an: Leila Chammaa, Michael Krüger, Marko Martin, Sabine Peschel, Jörg Plath, Iris Radisch und Sabine Scholl.
Autorin Shumona Sinha war Dolmetscherin in der französischen Migrationsbehörde
Die Autorin Shumona Sinha, 1973 in Kalkutta geboren, lebt seit 2001 in Paris und studierte an der Sorbonne Literaturwissenschaft. Sie arbeitete als Lehrerin für Englisch an weiterführenden Schulen und seit 2009 als festangestellte Dolmetscherin in der französischen Migrationsbehörde. Nach dem Erscheinen von „Erschlagt die Armen!“ im Jahr 2011 wurde ihr gekündigt.
Sinha veröffentlichte mehrere Romane sowie Gedichtbände auf Französisch und Bengalisch. „Erschlagt die Armen!“ wurde in Frankreich mehrfach ausgezeichnet.
„Erschlagt die Armen!“ – Der Schlüsselroman zum Migrations-Chaos in Europa?
Der verstörende und wie eine wüste Provokation klingende Titel des Romans, „Erschlagt die Armen!“, ist eine Anspielung auf das 1864 erschienene gleichnamige Prosagedicht von Charles Baudelaire. Nur wer dieses kennt, versteht, dass Shumona Sinha damit an das Ehrgefühl der Einwanderer appelliert. Dieses Hintergrundwissen kann man in Frankreich voraussetzen, in Deutschland aber nicht.
Die Badische Zeitung erläutert den Baudelaire-Text, auf den Sinha Bezug nimmt:
Darin schlägt der Ich-Erzähler, ein philosophierender Schriftsteller, am Eingang eines Varietés einen zudringlichen Bettler nieder. Dieser wehrt sich und bricht dem Angreifer vier Zähne heraus. Niemals, so der Verfasser rückblickend, habe er von dem „antiken Gerippe“ eine derart heftige Reaktion erwartet. Und er rühmt sich seines Erfolges: Durch die „energische Medikation“ habe er dem Bettler dessen Stolz und Leben zurückgegeben.
Einblicke in die Inhalte von Shimona Sinhas Roman gibt eine Rezension des Rundfunksenders SWR2:
Durch die aktuelle Situation bekommt dieses Buch eine ungeheure Brisanz. Täglich erreichen uns Nachrichten von steigenden Flüchtlingszahlen und Debatten über das Asylrecht in Europa. In dem Roman „Erschlagt die Armen“ lässt uns die aus Indien stammende und in Frankreich lebende Schriftstellerin Shumona Sinha einen Blick ins Innere des Asylsystems werfen. Dabei greift sie auf eigene Erfahrungen als Dolmetscherin in der französischen Asylbehörde zurück. […]
Die Frau ist Dolmetscherin bei der Asylbehörde und übersetzt bei den Anhörungen die Aussagen der Asylsuchenden aus Bangladesch und Pakistan. Täglich hört sie Lügengeschichten, die die Flüchtlinge auswendig lernen, denn die wahren Motive der Flucht – Elend, wirtschaftliche Not, Naturkatastrophen – werden als Gründe für Asyl nicht anerkannt. Einzig politische oder religiöse Verfolgung zählt, und so müssen die Asylbewerber ihre eigene Geschichte vergessen und eine Rolle spielen, die sie nicht beherrschen. Sie verstricken sich in ihren Lügen und verfügen nicht über die nötigen Informationen. Etwa wenn sie sich einer Religionsgemeinschaft zuordnen, der sie eigentlich nicht angehören.
Während die Männer – zum größten Teil sind es Männer – gebetsmühlenhaft das vorbringen, was ihnen die Schlepper oder ihre Landsleute eingebläut haben, reagieren die Dolmetscherin und die Beamtinnen – zum größten Teil sind es Frauen – manchmal belustigt über die unfreiwillige Komik, meistens aber genervt und wütend über die immer gleichen dummen Lügen. Mitleid ist längst abhanden gekommen.
Die Ich-Erzählerin gerät durch ihre Tätigkeit in eine Identitätskrise, fragt sich, auf welche Seite sie gehört. Die Asylsuchenden sind ihre Landsleute, die sie an ihre Herkunft, ihre Familie erinnern. Aber sie fühlt sich weit von ihnen entfernt.
Gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte die Autorin 2015: „Das Buch ist politisch inkorrekt. Aber ganz ehrlich, ich habe es nicht darauf angelegt. Mich konform zu verhalten und auszudrücken, das war nie meine Sache. Einen Asylsuchenden zu erniedrigen, käme mir nie in den Sinn, aber es nützt auch nichts, kleine Mitleidstropfen zu versprühen. Ich will die Mängel und Grenzen des Systems zeigen.“
Literaturübersetzerin Lena Müller suchte Verlag für deutsche Übersetzung
Lena Müller, geboren 1982, studierte „Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus“ an der Universität Hildesheim und „Erwachsenenbildung und Kulturvermittlung“ in Paris. 2015 war sie Stipendiatin am Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen.
Sie arbeitet als freie Übersetzerin und Autorin und ist Mitherausgeberin und Redakteurin der französischsprachigen Zeitschrift „timult“.
Der Roman „Erschlagt die Armen!“ sei ihr in ihrer Lieblingsbuchhandlung in Paris empfohlen worden, wie sie in einem Zeitungsinterview verrät. „Die kraftvolle, poetische Sprache und die sehr subjektive, wütende Erzählperspektive“ habe sie fasziniert.
Müller über den Roman: „Über die Ich-Erzählerin erhalten wir Einblicke in die Absurdität der bürokratischen Verwaltung von Asylgesuchen. Das Buch zeigt ja, dass der Zwang zur ‚richtigen‘ Geschichte beim Asylantrag viele Menschen in eine sehr schwierige Lage bringt, in der sie sich selbst verleugnen müssen, weil ihre Fluchtgründe nicht ganz mit den Aufnahmekriterien zusammenpassen. Das hatte ich in der Intensität noch nie gelesen.“
Dass das Werk überhaupt in deutscher Sprache erschienen ist, geht auf die Initiative von Lena Müller zurück. Sie fertigte eine Übersetzungsprobe an und suchte einen Verlag, den sie in der Edition Nautilus fand. Die Übersetzung erschien im Herbst 2015 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise.
Im Gespräch mit ihrer Heimatzeitung erklärt Lena Müller:
Viele Menschen sind auf der Suche nach einem eigenen Umgang mit der Aufnahme von geflüchteten Menschen in Deutschland und Europa. „Erschlagt die Armen!“ wirft beim Lesen viele Fragen auf und gibt eigentlich keine Antworten. Aber durch die Schönheit der Sprache und die Konfrontation mit der ambivalenten, wütenden Ich-Erzählerin ermöglicht das Buch nochmal eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Thema.
Bibliografische Angaben
- Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!, Edition Nautilus, 2015. 128 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3894018207. (Original auf Französisch: Assomons les pauvres!, Editions de l’Olivier, Paris 2011.)
[Text: Richard Schneider. Quelle: Pressemitteilung Haus der Kulturen der Welt, 2016-06-14; SWR2, 2015-08-31; Trierischer Volksfreund, 2016-06-15; Edition Nautilus. Bild: Katy Otto für Haus der Kulturen der Welt; Edition Nautilus; Philippe Soubias.]