Jürgen Trabant: Sprachdämmerung – Eine Verteidigung

Sprachdämmerung, Jürgen Trabant
Jürgen Trabant im Jahr 2020 mit seinem neuen Werk "Sprachdämmerung". - Bild: Stefan Flöper (CC BY-SA 4.0)

Sprache ist die menschliche Weise, sich die Welt denkend zu erschließen. Diese Einsicht wird jedoch in der europäischen Sprachkultur oft missachtet oder gar bekämpft. Deswegen ist die Sprache heute von vielen Seiten bedroht: durch die Übertreibung ihrer bloß kommunikativen Funktion, durch die Vernachlässigung der alten Kultursprachen, durch einen falschen Purismus und durch die Abkehr von der Mehrsprachigkeit.

Das neue Buch des Sprachwissenschaftlers Jürgen Trabant (78) ist eine leidenschaftliche Verteidigung der welterhellenden Kraft der Sprache und ihrer inneren wie äußeren Vielfalt.

Die vielen Sprachen Europas und der ganzen Welt sind – das wusste schon Wilhelm von Humboldt – ebenso vielfältige Weisen, die Welt zu erfassen. Will man also die kognitive Funktion der Sprache verteidigen, muss man auch den Reichtum der vielen Sprachen erhalten.

Wenn das Deutsche heute gegenüber dem globalen Englisch zunehmend in Not gerät, gilt das genauso für all die anderen europäischen Sprachen, die auf dem Rückzug sind, weil nur die globale Sprache Macht verspricht.

Jürgen Trabant zeichnet die historischen und sprachgeschichtlichen Entwicklungen nach, die zu unserer heutigen Situation geführt haben. Sein Buch ist ein Lob der Sprache, ohne die der Mensch nicht zu denken ist, und eine Warnung vor der heranrückenden Sprachdämmerung.

Über den Autor

Jürgen Trabant ist emeritierter Professor für Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er hatte zahlreiche Gastprofessuren im In- und Ausland inne und lehrte als Professor für European Plurilingualism an der Jacobs University Bremen. Bei C. H. Beck sind von ihm unter anderem erschienen: Europäisches Sprachdenken – Von Platon bis Wittgenstein (2006), Die Sprache (2009) und Weltansichten – Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt (2012).

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Vorwort zu Sprachdämmerung – Eine Verteidigung

«Am Anfang war das Wort.»
Also ist das Wort das Licht der Menschen, sagte er. Und so richtig gibt es die Dinge erst, wenn sie in Worte gefasst worden sind.
(Pascal Mercier)

Das vorliegende Buch möchte das «Licht der Menschen» hüten. Es feiert sein Leuchten, seine welterhellende Funktion, seine Farben – und sein Tönen. Sprache ist ein tönendes Licht, das sich über die Welt ergießt, eine Kostbarkeit, die uns anvertraut ist und für die wir Sorge tragen müssen – als souci de nous-mêmes, als Sorge um uns selbst. Daher geht das Buch auch einigen Gefährdungen nach, denen Sprache heute ausgesetzt ist. Am meisten sorgen sich viele Menschen um die eigene Sprache. Die Sorge um die Sprache in diesem Buch ist aber gar nicht zuvörderst auf die deutsche Sprache gerichtet.

Die Sorge um das Deutsche ist vielmehr nur eine Form der Sorge um die Sprache überhaupt. «Sprache überhaupt» kommt zwar nirgendwo in der Realität vor, sie manifestiert sich immer in Form bestimmter Sprachen. Aber alle diese Sprachen gehören eben doch zu einem Typus menschlicher Aktivität, der vielleicht noch mehr in Gefahr ist als irgendwelche besonderen Sprachen.

Menschliche Sprache wird nämlich von zwei Seiten aus bedrängt, von unten und von oben. «Von unten» wird sie zunehmend ersetzt durch vorsprachliche kommunikative Formen: In der U-Bahn spricht man nicht mehr miteinander, man verdrängt den anderen einfach sprachlos von der Tür. Junge Männer – und alte wie der amerikanische Präsident – bellen einander an und machen eine aggressive Schnute, um den anderen einzuschüchtern. Das Zeigen von Tätowierungen und Piercings kommuniziert Stammeszugehörigkeiten und sexuelle Präferenzen, aber es spricht nicht.

Und auch «von oben» ist Sprache – vielleicht noch massiver – bedroht, und zwar von etwas, das als Sprache daherkommt, in Wirklichkeit aber etwas anderes ist, nämlich Zeichen. Die technisch-wissenschaftliche Welt, in der wir leben, verlangt eine Verwendung der Sprache als Zeichen. Das heißt, die Gegenstände der Welt und die Begriffe müssen von unseren Wörtern präzise bezeichnet werden. Die Wörter, die wir dabei verwenden, sind völlig arbiträr, es ist vollkommen gleichgültig, welcher Sprache sie zugehören. Sie sind, wie Europa es seit Jahrtausenden wünscht und denkt, eindeutige Mittel zur Kommunikation von Sachen und Begriffen, die jenseits der Sprache durch technisches Hantieren und wissenschaftliche Abstraktion gewonnen worden sind.

Während die vorsprachlichen Handlungen, «unten», eher icons sind, Bilder der mitgeteilten Gefühle (Objektives wird nicht dargestellt), sind die nachsprachlichen Handlungen, «oben», nicht-ikonische, arbiträre Repräsentationen des Objektiven, Zeichen. Der Zweck beider Handlungen ist Kommunikation.

Sprache ist aber etwas anderes: Sie ist das «bildende Organ des Gedanken» (Wilhelm von Humboldt), also wesentlich Kognition, genauer: gemeinsames Denken, «Mit-Denken» (ebenfalls ein schönes Wort von Humboldt). Das Wort ist kein Bild und kein Zeichen, sondern steht zwischen beiden, als «Licht der Menschen», das im dichterischen Sprechen am schönsten leuchtet.

Es gilt, an diese für den Menschen konstitutive Weise des In-der-Welt-Seins zu erinnern, denn der Mensch ist nur Mensch durch Sprache. Weil jenes Sprach-Denken notwendigerweise in ganz verschiedenen Sprachen gebildet wird, generiert es oft die Liebe zu einer bestimmten Sprache, aber gleichzeitig auch – durch die «Lust an Sprache als Sprache» (Humboldt) – Liebe zu den vielen Sprachen des Menschen.

Meine Sorge um die deutsche Sprache werde ich hier zunächst mit der berühmtesten Schrift zur Verteidigung und Illustration des Deutschen beleuchten, mit Leibniz’ «Unvorgreiflichen Gedanken» von 1697. Leibniz’ Vorbild war Joachim Du Bellays «Défense et illustration de la langue française» von 1549. Beide Schriften evoziere ich, weil mir die Zeit für eine Verteidigung gekommen zu sein scheint:

Das Deutsche ist wie im 17. Jahrhundert «in die Rappuse», in Not und Zerstörung, geraten. Deswegen kann es gar nicht genügend Verteidigungen und «Illustrationen» geben. Die Berichte der deutschen Akademien (2013 und 2017) zur Lage der deutschen Sprache illustrieren diese, die schönen Bücher von Kaehlbrandt (2016) und Steinfeld (2010) illustrieren und verteidigen sie. Ich setze die Illustration voraus, verteidige sie nur und suche nach Auswegen aus der Rappuse.

Denn als verlockende Alternative zur Muttersprache steht eine Vatersprache bereit. Es ist klar: Die Deutschen sehnen sich nach einer solchen Vatersprache, die sie im amerikanischen Englischen finden, dem von mir so genannten «Globalesischen». Dieses ist deswegen so attraktiv, weil es nicht wie die Muttersprache ständig an die Schuld gemahnt. Der starke Vater sagt, wo’s lang geht: Our Master’s Voice.

Doch eine Alternative zur väterlichen Überwältigung könnte die freundliche Hinwendung zur Brudersprache sein, zur langue fraternelle. Sie drängt sich nicht vor, sie dominiert nicht, sie eröffnet einfach den Raum einer unschuldigen alternativen Sprachlichkeit. Insofern ist sie eigentlich attraktiver als die verführerische Vatersprache. Aber sie verspricht natürlich keine Macht, und sie wird gerade ihrerseits vom starken Vater eingeholt, wie all die anderen Brüder und Schwestern in Europa. Vielleicht kann sie uns aber dennoch helfen, zusammen mit den anderen Sprachgeschwistern die Mutter Sprache zu bewahren.

Wie Brünnhilde die Walküren, so bitten wir die schwesterlichen Sprachen gleichsam, uns – und die Mutter – gegen Wotan zu schützen. Den Walküren gelingt das bekanntlich nicht, weil sie sich einschüchtern lassen. Tapfere Mehrsprachigkeit aber könnte uns und die europäische «Glossodiversität», die Vielfalt der Sprachen, retten. Der junge französische Präsident ermuntert uns dazu.

Falls dies aber nicht gelingt, erfüllt sich Europas Schicksal als jenes Ende der Sprache, das Europa in seiner Philosophie und seiner Religion von Anfang an denkt – und ersehnt. Das Licht der Menschen verlöscht dann in einer wenig gloriosen Sprachdämmerung.

Bibliografische Angaben

  • Jürgen Trabant (2020): Sprachdämmerung – Eine Verteidigung. München: C. H. Beck. 240 Seiten, gebunden 29,95 Euro, E-Book 22,99 Euro, ISBN 978-3-406-75015-1.
  • Leseprobe (23 Seiten)
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