ILP 2022 geht an Übersetzerin Friederike von Criegern und spanische Autorin Cristina Morales

Die in Göttingen lebende Friederike von Criegern hat über chilenische Lyrik promoviert und übersetzt Belletristik, Lyrik und Theatertexte aus dem Spanischen. - Bild: Sascha Gaglia

Der Internationale Literaturpreis (ILP) 2022 als „Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen“ geht für den Roman Leichte Sprache (Lectura fácil) an die spanische Autorin Cristina Morales und ihre Übersetzerin Friederike von Criegern.

Das gab die Jury heute Abend auf der Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin in Anwesenheit der Preisträger und Nominierten bekannt.

Robin Detje und Heike Geißler als Vertreter der Jury hielten die Laudatio und überreichten den Preis. Anschließend wurde der Preisträgertitel im Gespräch mit Autorin und Übersetzerin vorgestellt.

ILP würdigt bewusst Originalwerk und Übersetzung

Der Internationale Literaturpreis würdigt bewusst Originalwerk und Übersetzung. Dieser doppelte Fokus macht ihn in der deutschen Preislandschaft einzigartig.

Zudem ist er mit 20.000 Euro für den Autor und 15.000 Euro für den Übersetzer recht hoch dotiert. Auch die anderen Nominierten der Shortlist gehen nicht leer aus. Sie erhalten jeweils 1.000 Euro.

Roman Leichte Sprache
Der mit dem ILP ausgezeichnete Roman erschien 2022 bei Matthes & Seitz (409 Seiten, 25 Euro). Man beachte, dass der Verlag die Übersetzerin auf der Frontseite des Umschlags nennt. – Bild: Silke Briel / HKW

„Für eine Übersetzerin kaum eine größere Herausforderung“

Aus der Begründung der Jury:

„Leichte Sprache“ ist eine vielstimmige Ich-Erzählung, ein Gerichtsprotokoll, ein Gesprächsprotokoll, ein Roman in Leichter Sprache, ein Fanzine. Ein poröses Ensemble aus Formen und Figuren.

Dieser Roman ist kein Inklusionsmärchen, er ist ein Forderungskatalog. Er besteht auf der Benennung von Unterschieden, auf Klarheit, er besteht auf der Notwendigkeit zu hassen, auf Lebendigkeit, Überraschung und Revolte. „Leichte Sprache“ ist eine Liebeserklärung an die Politisierung, aber auch an den Tanz und an das Begehren. Er erzwingt eine Neujustierung von Begrifflichkeiten und Zuschreibungen.

Unsere Entscheidung, den Preis diesem Buch zu geben, ist eine Liebeserklärung – an das Buch und seine Protagonistinnen, an die Heftigkeit, mit der sie auf Restriktionen, Demütigungen und Entmündigung reagieren.

„Leichte Sprache“ ist ein Buch aus vielen Stimmen, deren Ton oft rasch umschlägt. Rollenprosa von Figuren, über die wir wissen, dass Sprachgewalt und Eleganz nicht ihr Ziel sind, vielleicht auch nicht ihre Fähigkeit – deren Umgang mit Sprache also von vornherein brüchig ist. Man kann sich für eine Übersetzerin kaum eine größere Herausforderung vorstellen. Es ist preiswürdig, mit welcher Diszipliniertheit Friederike von Criegern sich dieser Aufgabe gestellt hat.

Christina Morales’ Buch ist ein Befreiungsschlag, weil es die Stärke vorführt, die unsere Fragilität hervorbringen kann, die Zähigkeit, die in unserer erfahrenen, erlebten oder auch antizipierten Versehrbarkeit gründet. Es führt uns einen auf befreiende Weise veränderten Blick auf die Welt vor, eine erst durch die Anerkennung eigener Versehrbarkeit zur Möglichkeit gewordenen Radikalität.

Cristina Morales
Cristina Morales, Autorin von „Lectura fácil“, das auf Deutsch als „Leichte Sprache“ erschienen ist. – Bild: Tristán Pérez Martín

Geschichte von vier Frauen: „kein Inklusionsmärchen, sondern Forderungskatalog“

Leichte Sprache erzählt die Geschichte von vier Frauen, die mit der Diagnose einer geistigen Behinderung in einer betreuten Wohnung im gentrifizierten Barcelona leben. Nati beschreibt ihre Symptomatik als „Schiebetüren-Syndrom“: Unter Druck verändert sich ihr Verhältnis zur Umwelt. Alle vier haben Lernschwierigkeiten. Marga ist Analphabetin und sexuell überaus aktiv, Àngels stottert, Patri hat Logorrhö.

In integrativen Tanzgruppen und in der Hausbesetzerszene Barcelonas versuchen die Frauen, sich von der Bevormundung durch staatliche Einrichtungen und Justiz zu befreien und ein  selbstbestimmtes Leben zu führen. So scharfsinnig wie wütend demaskiert die Tänzerin Nati die Ideologie der nach den Vorstellungen der „neoliberalen Macho-Faschos“ funktionierenden Gesellschaft, ihre Cousine Àngels entdeckt mit „leichter Sprache“ ein Instrument der Teilhabe und verfasst ihre Lebensgeschichte auf WhatsApp mit erstaunlicher Poesie.

Vielstimmig erzählt Cristina Morales vom Leben dieser Frauen und montiert dabei Gerichtsakten, Protokolle der anarchistischen Okupas und ein Fanzine zu einem großen Roman.

Autorin Cristina Morales

Cristina Morales studierte Rechts- und Politikwissenschaften und arbeitet als juristische Dolmetscherin in Barcelona. Sie verfasste mehrere preisgekrönte Romane und Kurzgeschichten und gilt als eine der besten Nachwuchsautorinnen Spaniens.

Ihr Roman Lectura fácil (Leichte Sprache) wurde mit dem Premio Herralde de Novela ausgezeichnet. 2019 gewann sie als jüngste Autorin den Premio Nacional de Narrativa des spanischen Kulturministeriums.

Morales ist Tänzerin und Choreografin der zeitgenössischen Tanzkompanie Iniciativa Sexual Femenina.

Übersetzerin Friederike von Criegern

Friederike von Criegern ist Literaturübersetzerin und freie Dozentin für Literatur und Übersetzen. Sie promovierte über chilenische Lyrik und übersetzt Belletristik, Lyrik und Theater aus dem Spanischen, zuletzt Jorge Comensal, Nona Fernández und Floridor Pérez. Nach Aufenthalten in Peru, Chile und Argentinien lebt sie in Göttingen.

ILP 2022, Shortlist
In die engere Auswahl kamen 2022 diese sechs Titel in der Übersetzung von (von links) Karin Betz (Chinesisch), Henning Ahrens (Englisch), Günther Orth (Arabisch), Friederike von Criegern (Spanisch), Maximilian Murmann (Finnisch) und Terézia Mora (Ungarisch). – Bild: Silke Briel / HKW

Die Jury

Der Jury gehörten in diesem Jahr Robin Detje, Heike Geißler, Michael Götting, Dominique Haensell, Verena Lueken, Annika Reich und Elisabeth Ruge an.

Träger und Geldgeber

Der Internationale Literaturpreis für Gegenwartsliteraturen in deutscher Erstübersetzung wurde zum vierzehnten Mal vom Haus der Kulturen der Welt (HKW) und der Stiftung Elementarteilchen (Hamburg) verliehen.

Das Haus der Kulturen der Welt wird gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie das Auswärtige Amt.

HKW, rs