In einer am Gratiscomictag verteilten Leseprobe für die von DC Comics herausgegebene Batman-Reihe habe ich unerwartet ein so genanntes Neopronomen entdeckt, nämlich sier. Dabei handelt es sich um ein für nichtbinäre Menschen schon vor über zehn Jahren maßgeblich von Illi Anna Heger entwickeltes persönliches Fürwort, das aus der Zusammenziehung der weiblichen bzw. männlichen Pronomen sie und er entstanden ist (Genitiv sies, Dativ siem, Akkusativ sien). Heger hat neben den Personalpronomen auch entsprechende Possessiv- und Relativpronomen vorgeschlagen.
In der Batman-Geschichte wird das neue Personalpronomen für die queere Figur Squeak verwendet, die auf den ersten Blick wie ein Mädchen wirkt, das lieber ein Junge sein möchte. In der Geschichte stellt sich die Heldin Miracle Molly schützend vor Squeak, die/der jedoch trotzdem angeschossen wird. Es gelingt beiden zu fliehen.
In der unten abgebildeten Szene verwendet Miracle Molly das Neopronomen sier, wenn sie über Squeak spricht: „Mist, sier wurde getroffen!“ In der nächsten Sprechblase taucht die Akkusativform auf: „Squeak braucht ’nen Arzt … Wir müssen sien hier rausschaffen.“
Für alle, die wissen wollen, wie es weitergeht: Als die Verfolger wieder näherrücken, kommen Batman höchstpersönlich sowie Harley Quinn zu Hilfe und schlagen die Bösewichte in die Flucht.
Wie übersetzt man das singulare they ins Deutsche?
Im englischen Original wird im Zusammenhang mit Squeak das Pronomen they/them als Singularform verwendet, wie eine kurze Webrecherche zeigt. Die Entscheidung für ein Pronomen, das von der Standardgrammatik abweicht, wurde also bereits vom herausgebenden Verlag DC Comics in den USA getroffen – nicht erst vom deutschen Lizenznehmer Panini Comics.
Der Übersetzer Ralph Kruhm stand aber vor der Frage, wie er das they im Deutschen wiedergeben sollte. Dabei hatte er die Qual der Wahl aus inzwischen mehr als zwei Dutzend völlig verschiedenen Neopronomen.
Sinn und Unsinn von Neopronomen
Über den Sinn und Unsinn von Neopronomen und deren Praktikabilität kann man an Universitäten endlos diskutieren. Gedacht sind Sie für alle, die sich weder als Frau noch als Mann fühlen.
Ob die Pronomen diesen Zweck erfüllen können, ist aber fraglich, denn sie werden nicht benutzt, um jemanden direkt anzusprechen, sondern um über Leute zu sprechen, die meist nicht anwesend sind. Diejenigen, für die diese Pronomen entwickelt wurden, bekommen deren Nutzung also in der Regel gar nicht mit.
Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum Englischen, wo sich inzwischen they/them als bevorzugte Variante durchgesetzt hat, im Deutschen noch eine unüberschaubare Vielfalt an Vorschlägen existiert. Vielleicht werden Neopronomen auch deshalb kaum außerhalb der Szene eingesetzt. Verlage haben womöglich Angst, auf das falsche Pferd zu setzen.
Paralleluniversen mit woken Superhelden
Erstaunlich ist, dass etwas so Spezielles wie ein Neopronomen in einem Mainstream-Comic wie Batman auftaucht. Das liegt daran, dass sich die beiden großen amerikanischen Comic-Verlage DC Comics und Marvel Comics vor einigen Jahren entschieden haben, sich voll und ganz dem „woken“ Zeitgeist zu verschreiben. Das kommt nicht nur in der Verwendung von Neopronomen zum Ausdruck, sondern noch stärker in der Entwicklung neuer Superhelden, die den Kriterien der LGBTQIA-Community entsprechen.
Dadurch ist Superman in einigen Geschichten nun schwul oder schwarz. Oder genauer gesagt: Neben dem guten alten Hetero-Superman existieren in anderen Welten jetzt auch zum Beispiel ein jugendlicher Superman namens Jon Kent, der bisexuell ist und mit „Fridays für Future“ demonstriert, sowie ein schwarzer Superman mit Namen Calvin Ellis auf Erde 23, der als „President Superman“ die Vereinigten Staaten regiert.
Und dass die seit jeher völlig durchgeknallte Harley Quinn nun lesbisch zu sein scheint und mit Poison Ivy herumknutscht, obwohl sie früher mal was mit dem Joker hatte, vermag dann auch nicht mehr zu überraschen.
Die neuen Helden lassen sich im „Multiversum“ von DC Comics problemlos unterbringen, denn dieses besteht aus mehreren Paralleluniversen („Erde 0“ bis „Erde 51“).
Anbiederung an den Zeitgeist oder ernsthaftes Anliegen?
Mit der Strategie, auf jeder Modewelle zu surfen, sind andere Unternehmen schon auf die Nase gefallen („Go woke, go broke.“). Zwar werden die queeren Helden von einer kleinen Zielgruppe begeistert aufgenommen, aber die Verkaufszahlen bleiben hinter den Erwartungen und deutlich hinter dem Absatz der traditionellen Superhelden-Reihen zurück.
Wahrscheinlich hätte niemand etwas gegen schwule, lesbische oder unentschiedene Charaktere in den traditionellen Comic-Reihen einzuwenden, wenn deren Geschichten glaubhaft und stimmig wären. In der gegenwärtigen Machart wirken die Handlungsstränge aber nicht selten konstruiert und aufgesetzt – als hätte man eine vorgegebene Checkliste mit vermeintlich benachteiligten Randgruppen abgearbeitet. („So, wir brauchen jetzt noch einen Dicken mit Brille, eine Kampflesbe mit blauen Haaren und einen schmächtigen, feminin wirkenden Asiaten.“) Und die Tatsache, dass man die neuen Figuren in Paralleluniversen abschiebt, könnte man auch als diskriminierend betrachten.
Zeichnerisch sind die „woken“ Ausgaben der klassischen Superhelden aber gewohnt professionell gemacht und taugen durchaus als attraktive Identifikationsfiguren. Nicht nur wegen der Neopronomen könnten sich die Hefte als Dokumente des Zeitgeists später einmal zu begehrten Sammlerstücken entwickeln.
Weiterführende Links
- Wikipedia: Das singulare Pronomen „they“
- 2019-06-03 (Deutschlandfunk): „Das Land der Juwelen“ von Haruko Ichikawa – Ausnahme-Manga mit geschlechtslosen Hauptfiguren
- Illi Anna Heger dokumentiert auf dieser Seite das Vorkommen von Pronomen ohne Geschlecht in Texten und Filmen: www.annaheger.de/pronomentexte
Richard Schneider