Toxische Koran-Übersetzungen? 23.000 Exemplare beschlagnahmt und seit Jahren eingelagert

Koran
Kein billiges Taschenbuch, sondern eine gebundene Ausgabe in festem Einband und ansprechender Aufmachung: In Schwarz mit blauer Akzentfarbe und Goldprägung sowie einem Lesebändchen präsentiert sich die 2013 erschienene 9. Auflage der von der Lies!-Stiftung verteilten Koran-Exemplare in der Übersetzung des Kölners Muhammad Ahmad Rassoul. Spätere Ausgaben hatten dieselbe goldglänzende Ornamentik, aber einen bordeauxfarbenen oder weißen Einband. - Bild: Richard Schneider

Erinnern Sie sich noch an die freundlichen jungen Salafisten, die ab Herbst 2011 in den Fußgängerzonen fünf Jahre lang kostenlos Koran-Übersetzungen verteilt haben? Das erklärte Ziel war, das Buch in jeden deutschen, österreichischen und Schweizer Haushalt zu bringen.

Der Obrigkeit gefiel das Treiben der zu diesem Zweck gegründeten Lies!-Stiftung nicht. Der Staat fand jedoch lange keine Handhabe dagegen. Denn der Koran ist nicht verboten. Und Bücher zu verschenken, ist auch nicht verboten.

Erst als es Jahre später Hinweise darauf gab, dass die hinter der Aktion stehende Gruppierung Die wahre Religion (DWR) des Kölners Ibrahim Abou-Nagie ihre Anhänger auch für den Kampf beim IS in Syrien und dem Irak begeisterte, wurde sie 2016 vom deutschen Innenminister Thomas de Maizière verboten und aufgelöst.

Rund 23.000 (nach anderen Quellen „rund 22.000“ oder „mehr als 20.000“) noch nicht verteilte Exemplare des Korans wurden in einer Lagerhalle in Köln-Pulheim beschlagnahmt und gingen letztlich in den Besitz des Bundes über.

Bis dahin waren allein von 2011 bis April 2015 bereits zwei Millionen Bücher unters Volk gebracht worden, wie Abou-Nagie in einem Interview mit Spiegel-TV angab. Bis zum Verbot der Organisation Ende 2016 sollen es dann nach einem Bericht der Welt sogar insgesamt rund 3,5 Millionen gewesen sein.

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Die im Rahmen der Lies!-Kampagne verteilten Auflagen enthalten nur den Koran-Text mit Inhaltsverzeichnis und Register. Sonst nichts. Kein Vor- oder Nachwort, keine Werbung, keine Agitation. – Bild: Richard Schneider

Bücherpaletten auch nach sechs Jahren immer noch eingelagert

Was macht man mit 23.000 einkassierten Büchern? Zum Altpapier oder in die Müllverbrennung geben? In diesem Fall besser nicht.

Deshalb wurde bereits vor sechs Jahren beschlossen, die Paletten erst einmal einzulagern. Die Jahre gingen ins Land, auf Minister de Maizière folgte Horst Seehofer, auf Seehofer folgte Nancy Faeser. Und noch immer ist keine Lösung in Sicht.

Der Journalist Florian Flade, der die Geschichte seit Jahren verfolgt, hat am 21.10.2022 auf Twitter in fünf Tweets den aktuellen Stand der Dinge skizziert:

Die Koran-Exemplare des @BMI_Bund: Im November 2016 hat der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière das Salafisten-Netzwerk „Die Wahre Religion“ und die „Lies!“-Stiftung verboten. Dabei wurden mehr als 20.000 Koran-Übersetzungen beschlagnahmt. Was ist damit passiert?

Die Koran-Übersetzungen gehören seit dem Vereinsverbot nun dem Bund. Sie wurden zunächst in einer #Bundeswehr-Liegenschaft in #NRW eingelagert – und befinden sich bis heute noch dort. Denn das Ministerium weiß nicht, was es mit den Büchern machen soll.

Unter dem nachfolgenden Bundesinnenminister Horst Seehofer wurde bereits geprüft, ob die Bücher vielleicht an religiöse Organisationen abgegeben werden können – das soll allerdings auf Ablehnung gestoßen sein. Ebenso wurden Vorschläge verworfen, die Bücher einfach zu vernichten.

Und so verbleiben die Koran-Exemplare aus den Beständen der Salafisten nun auch unter Seehofers Nachfolgerin @NancyFaeser im Besitz des Bundes.

Wie eine Sprecherin @BMI_Bund mitteilt, handele es sich bei den „beschlagnahmten Druckerzeugnissen“ nicht um Korane: „Bereits auf dem Einband werden sie als ungefähre Übersetzung deklariert“. Sie seien weiter sorgsam verwahrt. Über die weitere Verwendung wurde nicht entschieden.

„Ungefähre Bedeutung in deutscher Sprache“

Die Aussage der Sprecherin des Innenministeriums, es handle sich hier nicht um Koran-Exemplare, weil darauf „die ungefähre Bedeutung in deutscher Sprache“ vermerkt sei, ist Unsinn.

Die Floskel ist dort angebracht, weil für Muslime nur der arabische Urtext maßgeblich ist. Von Gläubigen wird erwartet, die Sprache zu erlernen. Übersetzungen dienen lediglich als Verständnishilfe für diejenigen, die des Arabischen (noch) nicht ausreichend mächtig sind. Oft erscheinen sie deshalb zweisprachig auf Arabisch und Deutsch.

Der Hinweis findet sich auch im Titel anderer Koran-Ausgaben, zum Beispiel der textnahen Übersetzung von Frank Bubenheim und Nadeem Elyas, die im Auftrag des saudi-arabischen Religionsministeriums angefertigt wurde.

Als zurzeit interessanteste Koran-Übersetzung für Nicht-Muslime und neuer Standard gilt die 2010 bei C. H. Beck erschienene Fassung des Erlanger Orientalisten Prof. Hartmut Bobzin.

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Ein Blick auf den Satzspiegel der kostenlos verteilten Koran-Ausgabe. Handwerklich ist das Buch gut gemacht. Mit der Produktion der mindestens 24 Auflagen wurden verschiedene Druckereien betraut, zunächst in Deutschland, später auch im Ausland, zum Beispiel in Polen und Spanien. Ein Betrieb in Ulm hat alleine mehr als 300.000 Exemplare hergestellt. – Bild: Richard Schneider

Übersetzer Rassoul war BDÜ-Mitglied sowie gerichtlich beeidigt und ermächtigt

Bei den eingelagerten Büchern handelt es sich um eine 1986 erstmals veröffentlichte Koran-Übersetzung von Muhammad Ahmad Rassoul (أبو رضا محمد بن أحمد بن رسول, Abū Riḍā Muḥammad b. Aḥmad b. Rasūl).

Der 1929 geborene und 2015 im Alter von 85 Jahren verstorbene Rassoul war in Köln ansässig und machte sich als überaus produktiver Autor von Dutzenden von Büchern und mehr als 100 weiteren Aufsätzen, Zeitschriftenbeiträgen und Stellungnahmen einen Namen. Darüber hinaus wirkte er auch als Übersetzer und Verleger islamischer Literatur.

Es ist davon auszugehen, dass sich der Übersetzer Rassoul und der Salafist Abou-Nagie kannten. Beide lebten jahrzehntelang in der großen muslimischen Gemeinschaft von Köln. Rassoul muss 2011 als Urheber sein Einverständnis gegeben haben, als Abou-Nagie plante, dessen Koran-Übersetzung in Millionenauflage für die Lies!-Kampagne herauszubringen.

Privatgelehrter mit missionarischem Eifer

Der gebürtige Ägypter Muhammad Ahmad Rassoul hat sowohl in Kairo als auch in Köln ein Jurastudium abgeschlossen und versuchte in Köln zu promovieren. In einer Kurzbiografie auf der Website der von ihm gegründeten „IB Verlag Islamische Bibliothek gemeinnützige Gesellschaft mbH“ heißt es dazu:

Seine Dissertation mit dem Titel „Zum Begriff der juristischen Person im islamischen Recht“ wurde von seinen deutschen Professoren positiv bewertet. Ihm wurde jedoch der Doktortitel unter sehr dramatischen Umständen, welche Presse und Justiz beschäftigten, nicht verliehen.

Darüber hinaus war Rassoul auch an anderen Fachgebieten wie Geschichte, Literatur und Sprachen interessiert, in die er sich geflissentlich einarbeitete und teils weitere Studiengänge belegte.

Zu seinen übersetzerischen Qualifikationen liest man beim IB-Verlag:

Er besuchte die Höhere Fachschule für Dolmetscher und Übersetzer in Köln, bestand am 22. März 1966 in Bonn die staatlich anerkannte Prüfung und wurde als Mitglied des Bundesverbandes der Dolmetscher und Übersetzer aufgenommen. […]

Auf Grund seiner vielseitigen Qualifikationen und sprachlichen Befähigungen wurde er für die arabische Sprache als Dolmetscher für die Gerichte des Landgerichtsbezirks und ermächtigter Übersetzer für den Oberlandesgerichtsbezirk Köln allgemein beeidigt.

Auf der Website eslam.de heißt es zur Erstausgabe der Koran-Übersetzung von Rassoul:

In Rassouls Verlag wurde 1986 unter dem Titel „Die ungefähre Bedeutung des Qurʾān Karīm“ eine neue Quran-Übersetzungen ins Deutsche veröffentlicht, die kurz mit der Veröffentlichung zu einem Skandal unter den Muslimen in Deutschland geführt hat. In der ersten Auflage des Buches wurde der Anfangsteil des Verses 6:159 [sic!, gemeint ist 158] wie folgt übersetzt:

„Mit jenen aber, die zur Spaltung ihrer Religion beitrugen und zu Schiiten geworden sind, hast du nichts Gemeinsames …“

Erst der massive Protest vom Islamischen Zentrum Hamburg unterstützt von zahlreichen Organisationen der Sunniten, die einen Missbrauch der Übersetzung für politische Zwecke abgelehnt haben, wurde der Restauflage ein Korrekturblatt hinzugefügt. Bei späteren Auflagen wurde der Fehler korrigiert. Damals führte Saddam unterstützt von Saudi-Arabien den Irak-Iran-Krieg und Rassoul stand den Herrschern in Saudi-Arabien nahe.

In der aktuellen Ausgabe heißt der Vers:

Mit jenen aber, die zur Spaltung ihrer Religion beitrugen und zu Parteien geworden sind, hast du nichts Gemeinsames.

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Die Rückseite der von der Lies!-Stiftung verbreiteten Rassoul-Übersetzung ist auf Arabisch gehalten, in für den Koran bekannter Kalligraphie. – Bild: Richard Schneider

Warum nicht in den Handel bringen oder verschenken?

Der Text von Rassoul ist nach Ansicht von Fachleuten eine brauchbare Standardübersetzung in eher konservativer Auslegung. Sie zählt nicht zu den besten Übertragungen ins Deutsche, ist aber seit Jahrzehnten im Umlauf und gehört im deutschen Sprachraum zu den am weitesten verbreiteten Koran-Fassungen.

Eigentlich spräche nichts dagegen, die beschlagnahmten Exemplare meistbietend an einen Buchhändler zum Weiterverkauf zu versteigern oder kostenlos muslimischen Gemeinden zu überlassen. Denn es handelt sich nicht um Hetzschriften, sondern lediglich um eine Wiedergabe des Koran-Textes in deutscher Sprache, die auch seit Langem online im Internet abrufbar ist.

Was die Behörden davon abhält, die 23.000 Exemplare freizugeben, ist offenbar die eine Seite vorne im Buch, auf der als Herausgeber – je nach Auflage – entweder die verbotene Lies!-Stiftung oder der geächtete Ibrahim Abou-Nagie steht.

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Richard Schneider