Spannend: Forscher entdeckt mit UV-Kamera 1.750 Jahre alte syrische Bibel-Übersetzung

frühe syrische Bibelübersetzung
Das Fragment der syrischen Übersetzung des Neuen Testaments ist nur unter ultraviolettem Licht im Hintergrund der aktuellen Beschriftung des Pergaments erkennbar. Nach dem Ausradieren wurde das Blatt zur Neubeschriftung um 90 Grad gedreht. - Bild: Bibliothek des Vatikans

Es ist ein wichtiges Puzzleteil in der Geschichte der Bibel und einer der ältesten Textzeugen der Evangelien: Ein kleines Handschriftenfragment der syrischen Übersetzung aus dem Griechischen, die im 3. Jahrhundert verfasst und im 6. Jahrhundert kopiert wurde.

Grigory Kessel von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat das Fragment jetzt mit Hilfe von Ultraviolett-Fotografie in der Bibliothek des Vatikans entdeckt. Bei den analysierten Seiten handelt es sich um das fast vollständige zwölfte Kapitel aus dem Matthäus-Evangelium.

Vor etwa 1.300 Jahren nahm ein Schreiber in Palästina ein Evangelienbuch, das mit einem syrischen Text beschriftet war, und radierte es aus. Pergament war im Mittelalter in der Wüste Mangelware. Manuskripte wurden daher häufig wiederverwendet.

Dem Forscher gelang es, die verloren gegangenen Worte auf diesem geschichteten Manuskript, dem sogenannten Palimpsest, wieder lesbar machen: Auf einzelnen erhalten gebliebenen Blättern dieser Handschrift wurde eine der frühesten Übersetzungen der Evangelien entdeckt, die im 3. Jahrhundert erstellt und im 6. Jahrhundert kopiert wurde.

Eines der ältesten Fragmente, das die altsyrische Fassung bezeugt

„Die Tradition des syrischen Christentums kennt mehrere Übersetzungen des Alten und Neuen Testaments“, sagt Kessel. „Bis vor kurzem waren nur zwei Handschriften bekannt, die die altsyrische Übersetzung der Evangelien enthalten.“

Während eine davon heute in der British Library in London aufbewahrt wird, wurde eine weitere als Palimpsest im Katharinenkloster auf dem Berg Sinai entdeckt. Im Zuge des „Sinai Palimpsests Project“ wurden vor Kurzem die Fragmente aus einer dritten Handschrift identifiziert.

Das kleine Handschriftenfragment, das jetzt gefunden wurde, kann als vierter Textzeuge betrachtet werden. Grigory Kessel hat es mithilfe der Ultraviolett-Fotografie als dritte Textschicht, also Doppelpalimpsest, in einer Handschrift der Vatikanischen Bibliothek identifiziert.

Einblick in sehr frühe Phase der textuellen Überlieferung der Evangelien

Das Fragment ist bisher das einzige bekannte Überbleibsel der vierten Handschrift, das die altsyrische Fassung bezeugt. Es bietet einen einzigartigen Zugang zur sehr frühen Phase in der Geschichte der textuellen Überlieferung der Evangelien.

Je mehr Übersetzungen bekannt sind, desto mehr erfährt die Wissenschaft über den Originaltext der Evangelien. Während zum Beispiel im griechischen Original des Matthäusevangeliums, Kapitel 12, Vers 1, steht: „Zu der Zeit ging Jesus durch die Saat am Sabbat; und seine Jünger waren hungrig, fingen an, Ähren auszuraufen, und aßen“, heißt es in der syrischen Übersetzung: „[…] fingen an, Ähren auszuraufen, sie rieben mit seinen Händen und aßen.“

syrische Übersetzung des Neuen Testaments
Wie eine Art Wasserzeichen wird die frühere Übersetzung unter ultraviolettem Licht sichtbar. – Bild: Bibliothek des Vatikans (vergrößern mit Rechtsklick, Grafik in neuem Tab öffnen)

„Großer Fund gelungen“, syrische Übersetzung älter als Codex Sinaiticus

Erfreut zeigt sich auch Claudia Rapp, Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der ÖAW: „Grigory Kessel ist aufgrund seiner profunden Kenntnis der alten syrischen Texte und Schriftcharakteristika ein großer Fund gelungen“, sagt sie.

Die aus dem 3. Jahrhundert stammende syrische Übersetzung – deren Existenz bisher nur aus der indirekten Überlieferung, also aus Zitaten in anderen Werken bekannt ist – wurde mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten erhaltenen griechischen Handschriften, darunter dem bedeutenden Codex Sinaiticus, verfasst. Früheste erhaltene Handschriften mit dieser syrischen Übersetzung datieren aus dem 6. Jahrhundert und sind in Palimpsesten erhalten.

„Diese Entdeckung beweist, wie produktiv und wie wichtig das Zusammenspiel modernster digitaler Techniken in der Grundlagenforschung bei der Begegnung mit den mittelalterlichen Handschriften sein kann“, so Claudia Rapp.

Sinai Palimpsests Project will Handschriften wieder lesbar machen

Das Sinai Palimpsests Project hat zum Ziel, die jahrhundertealten wertvollen Palimpsesthandschriften des Katharinenklosters in Ägypten wieder lesbar und in digitaler Form verfügbar zu machen.

Bisher konnten bereits 74 Handschriften entziffert werden. Claudia Rapp von der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist die wissenschaftliche Direktorin des Projekts.

  • Originalpublikation: “A New (Double Palimpsest) Witness to the Old Syriac Gospels (Vat. iber. 4, ff. 1 & 5)“, Grigory Kessel, New Testament Studies, 2022, 69(2), 210-221 (Open Access)

Stefan Meisterle (ÖAW)