Was prägt die Struktur, die Sprachen zugrunde liegt? In einer neuen Studie berichtet ein internationales Forscherteam, dass die grammatikalische Struktur von Sprachen erstaunlich flexibel ist und durch Faktoren wie die gemeinsame Herkunft verschiedener Sprachen, Besonderheiten hinsichtlich Kognition und Sprachgebrauch aber auch durch Sprachkontakt beeinflusst wird.
Für ihre Studie nutzten die Forscher die seit April 2023 öffentlich zugängliche Grambank, die Daten zu grammatikalischen Strukturen von über 2.400 Sprachen enthält. Initiiert wurde das Projekt vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, in Zusammenarbeit mit einem Team von über hundert Sprachwissenschaftlern aus der ganzen Welt.
Sprachvariation ist für die Sprachwissenschaft seit Langem von Interesse. Welche gemeinsamen oder universellen Muster liegen Sprachen zugrunde? Wie viel Variation zwischen Sprachen ist möglich und welche Prozesse begrenzen diese Variation?
Weltweit größte und umfassendste Datenbank zu Sprachstrukturen
Die weltweit größte und umfassendste Datenbank zu Sprachstrukturen, Grambank, ermöglicht es, einige dieser Fragen zu beantworten. Grambank wurde in internationaler Zusammenarbeit zwischen den Max-Planck-Instituten in Leipzig und Nijmegen, der Australian National University, der University of Auckland, der Harvard University, der Yale University, der University of Turku, der Universität Kiel, der Uppsala Universitet, der SOAS, dem Endangered Languages Documentation Programme und über hundert Wissenschaftlern aus der ganzen Welt aufgebaut.
Die Datenbank umfasst 215 verschiedene Sprachfamilien und 101 Isolate aus allen bewohnten Kontinenten. „Den Fragebogen zum Eintragen der Sprachmerkmale mussten wir anfangs mehrfach überarbeiten, um möglichst viele der unterschiedlichen Strategien zu erfassen, die Sprachen zur Kodierung grammatikalischer Eigenschaften entwickelt haben“, sagt Erstautorin Hedvig Skirgård, die einen Großteil der Kodierung koordinierte.
Theoretisch unendliche Variation hat in Praxis Grenzen
Das Team einigte sich auf 195 grammatikalische Eigenschaften, die von der Wortstellung bis hin zur Frage reichen, ob eine Sprache geschlechtsspezifische Pronomen hat oder nicht. In vielen Sprachen gibt es zum Beispiel getrennte Pronomen für „er“ und „sie“, einige Sprachen verwenden aber auch männliche und weibliche Versionen von „ich“ oder „du“. Der mögliche „Gestaltungsraum“ wäre enorm, wenn grammatikalische Eigenschaften frei variieren könnten.
Dass die tatsächliche Variation Grenzen hat, könnte mit kognitiven Prozessen zusammenhängen, die im Gedächtnis oder in Lernvorgängen verwurzelt sind und einige grammatikalische Strukturen wahrscheinlicher machen als andere. Grenzen könnten auch auf historische Umstände zurückzuführen sein, wie die Abstammung von einer gemeinsamen Sprache oder der enge Kontakt mit anderen Sprachen.
Bei der Kombination grammatikalischer Merkmale wurde eine viel größere Flexibilität entdeckt, als viele Theoretiker bisher angenommen haben. „Sprachen können in quantifizierbarer Weise erheblich variieren, aber nicht ohne Grenzen“, erklärt Stephen Levinson, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen und einer der Gründer des Grambank-Projekts. „Ein Zeichen für die außergewöhnliche Vielfalt der 2.400 Sprachen in unserer Stichprobe ist, dass nur fünf von ihnen denselben Platz im möglichen Gestaltungsraum der Sprachen einnehmen und genau dieselben grammatikalischen Eigenschaften teilen.“
Genealogie wirkt sich stärker aus als Geografie
Sprachen sind anderen Sprachen, mit denen sie einen gemeinsamen Vorfahren teilen, viel ähnlicher als Sprachen, mit denen sie lediglich Kontakt hatten. „Genealogie übertrumpft im Allgemeinen die Geografie“, sagt Hauptautor Russell Gray, Direktor der Abteilung für Sprach- und Kulturevolution.
Gray weiter: „Wenn die Prozesse zur Evolution und Diversifizierung von Sprache noch einmal von vorne beginnen würden, gäbe es dennoch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir heute haben. Den Zwängen der menschlichen Kognition zu unterliegen bedeutet, dass es bei der Organisation grammatikalischer Strukturen zwar ein hohes Maß an historischer Kontingenz gibt, dass aber auch feste Muster vorhanden sind.“
Vielfalt der Sprachen ist bedroht
„Die außerordentliche Vielfalt der Sprachen ist eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheit“, so Levinsons Schlussfolgerung. „Diese Vielfalt ist stark bedroht, insbesondere in einigen Regionen der Welt wie zum Beispiel in Nordaustralien und Teilen Süd- und Nordamerikas. Ohne nachhaltige Bemühungen um die Dokumentation und Wiederbelebung gefährdeter Sprachen wird unser Blick auf die menschliche Geschichte, Kognition und Kultur durch das Fenster, das die Linguistik uns bietet, zukünftig stark eingeschränkt sein.“
Grambank frei zugänglich – nicht nur für Linguisten
Die Grambank-Datenbank ist eine frei zugängliche und umfassende Ressource, die von der Max-Planck-Gesellschaft unterhalten wird.
„Sie stellt die Linguistik auf eine Stufe mit der Genetik, der Archäologie und der Anthropologie, wenn es um quantitative, umfassende und frei zugängliche Daten geht“, sagt Gray. „Ich hoffe, dass Grambank die Erforschung der Verbindungen zwischen sprachlicher Vielfalt und einer breiten Palette von anderen kulturellen und biologischen Merkmale erleichtern wird, von religiösen Überzeugungen über wirtschaftliche Verhaltensweisen und musikalische Traditionen bis hin zu genetischen Abstammungslinien. Diese Verbindungen zu anderen Facetten menschlichen Verhaltens werden die Grambank zu einer Schlüsselressource nicht nur für die Linguistik machen, sondern ganz generell für das multidisziplinäre Bestreben, die menschliche Vielfalt zu verstehen.“
Weiterführende Links
- grambank.clld.org
- Hedvig Skirgård et al.: Grambank reveals the importance of genealogical constraints on linguistic diversity and highlights the impact of language loss. In: Science Advances, 19. April 2023
Sandra Jacob (MPI)