Was hat die deutsche Sprache mit dem Nepalesischen in Nepal, mit Pashtu in Afghanistan, oder mit dem Gälischen in Irland gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht allzu viel.
Aber bereits vor mehr als hundert Jahren hat die historische Sprachwissenschaft gezeigt, dass diese Sprachen zusammen mit hunderten weiteren auf der eurasischen Landmasse gesprochenen Sprachen aus einer gemeinsamen Ursprache hervorgegangen sind: der sogenannten Indoeuropäischen Sprache.
Viel später, im Zuge der Kolonialisierung, erreichten Sprachen wie Spanisch, Portugiesisch und Englisch eine globale Ausbreitung. Inzwischen spricht fast die Hälfte der Menschheit eine aus der indoeuropäischen Sprachfamilie stammende Sprache.
Mittlerweile gibt es einen breiten Konsens darüber, welche Sprachen zur indoeuropäischen Sprachfamilie gezählt werden können, doch wesentliche Fragen zur vorgeschichtlichen Entwicklung und Ausbreitung des Indoeuropäischen liegen nach wie vor im Dunkeln: Wo und wann hat sich die Ursprache herausgebildet und auf welchen Wegen haben die ersten Sprachgemeinschaften das enorme Verbreitungsgebiet zwischen Indien und Nordwesteuropa besiedelt?
Bisher: Steppen-Hypothese und Anatolien- oder Ackerbau-Hypothese
Zwei wesentliche Theorien haben die Debatte bisher dominiert:
- Die Steppen-Hypothese verortet den Ursprung vor etwa 6.000 Jahren in der pontisch-kaspischen Steppe.
- Die Anatolien- oder Ackerbau-Hypothese geht von einer frühren Entstehung und Verbreitung vor etwa 9.000 Jahren aus – zusammen mit dem Ackerbau in Anatolien.
Phylogenetische Analysen der indogermanischen Sprachen gelangten bisher zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen vor allem über das Alter dieser Sprachfamilie, was auf Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten in den verwendeten Datensätzen, sowie auf Einschränkungen bei der Analyse „antiker“ Sprachen zurückzuführen ist.
Neue Studie hat Daten von 161 Sprachen linguistisch und genetisch ausgewertet
Neue Erkenntnisse zu diesen Fragen liefert nun ein in der Wissenschaftszeitschrift Science erschienener Aufsatz, in dem ein international zusammengesetztes Autorenteam aus der Linguistik und Genetik Daten aus 161 Sprachen ausgewertet hat.
Die Studie gilt als wichtiger Durchbruch, der die Erkenntnisse zum Ursprung der indogermanischen Sprachen maßgeblich erweitert.
Die mehrjährige Forschungsarbeit um den Erstautor Paul Heggarty wurde hauptsächlich am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig durchgeführt.
Ursprung wird jetzt südlich des Kaukasus in Ost-Anatolien verortet
Das zentrale Ergebnis der neuen Studien: Das Indoeuropäische hat sich nach dem neuen Erkenntnisstand vermutlich zuerst südlich des Kaukasus im heutigen Ostanatolien herausgebildet und von dort weiter ausgebreitet, wobei einige Gruppen zunächst nördlich über die Steppe ihre Ausbreitung begonnen haben könnten.
Die Ergebnisse sprechen gegen die frühere sogenannte „Steppen-Hypothese“, nach der das Ur-Indoeuropäische vor etwa 6.000 Jahren in der pontisch-kaspischen Steppe entstanden ist.
Bayesʼsche phylogenetische Analyse unter Einbeziehung ausgestorbener Sprachen
Das Team verwendete eine neuartige Bayes’sche phylogenetische Analyse, um zu prüfen, ob alte geschriebene Sprachen, wie das klassische Latein und das vedische Sanskrit die direkten Vorfahren der modernen gesprochenen (romanischen bzw. indischen) Sprachen sind.
Russell Gray, Direktor der Abteilung für Sprach- und Kulturevolution und Hauptautor der Studie, betont: „Unsere Chronologie ist über eine Vielzahl von alternativen phylogenetischen Modellen und Sensitivitätsanalysen hinweg robust.“
Dabei wurden neben heute gesprochenen auch 52 ältere, bereits ausgestorbene indoeuropäische Sprachen wie das Altgriechische oder Altpersische einbezogen. Durch diese umfassendere und ausgewogenere Auswahl von Sprachen in Verbindung mit strikten Protokollen für die Kodierung solch lexikalischer Daten konnten die Probleme von Datensätzen früherer Studien behoben und die Entwicklungschronologie verfeinert werden.
Neu ermitteltes Alter der proto-indogermanischen Ursprache: etwa 8.100 Jahre
Das Alter des Proto-Indogermanischen wird jetzt auf etwa 8.100 Jahre geschätzt, das sind 2.100 Jahre mehr als bisher nach der Steppen-Hypothese angenommen. Wobei sich fünf Hauptzweige bereits vor etwa 7.000 Jahren abspalteten.
Diese Ergebnisse stimmen weder mit der Steppen- noch mit der Ackerbauhypothese völlig überein. Der Erstautor der Studie, Paul Heggarty, stellt fest:
Jüngste DNA-Daten weisen darauf hin, dass der anatolische Zweig des Indogermanischen nicht aus der Steppe stammt, sondern von weiter südlich, im oder nahe dem nördlichen Bogen des Fruchtbaren Halbmonds – als früheste Quelle der indogermanischen Familie.
Die Topologie unseres Sprachstammbaums und die Daten der Stammbaumaufspaltung deuten auf andere frühe Zweige hin, die sich ebenfalls direkt von dort und nicht über die Steppe verbreitet haben könnten.
Linguistik und Genetik formulieren neue hybride Hypothese
Die Autoren der Studie haben eine neue hybride Hypothese für den Ursprung der indogermanischen Sprachen vorgeschlagen, mit einer endgültigen Urheimat südlich des Kaukasus und einer anschließenden Verzweigung nach Norden in die Steppe als sekundäre Heimat für einige Zweige des Indogermanischen, die mit den späteren Jamnaja- und Schnurwaren-assoziierten Expansionen nach Europa kamen.
Russel Gray: „Alte DNA und Sprachphylogenetik legen somit nahe, dass die Lösung des 200 Jahre alten indogermanischen Rätsels in einer Mischung aus der Ackerbau- und der Steppenhypothese liegt.“
Wolfgang Haak, Gruppenleiter in der Abteilung für Archäogenetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, fasst die Bedeutung der neuen Studie zusammen:
Abgesehen von einer verfeinerten Zeitschätzung für den gesamten Sprachbaum sind die Baumtopologie und die Verzweigungsreihenfolge von entscheidender Bedeutung für die Übereinstimmung mit archäologischen Schlüsselereignissen und sich verändernden Abstammungsmustern, wie sie in den Genomdaten damals lebender Menschen zu finden sind.
Dies ist ein großer Schritt weg von den sich gegenseitig ausschließenden, früheren Szenarien hin zu einem plausibleren Modell, das archäologische, anthropologische und genetische Erkenntnisse integriert.
Internationale Zusammenarbeit durch Alexander-von-Humboldt-Fellowship
Am Projekt beteiligt ist auch der Bamberger Linguist Geoffrey Haig, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Sprachwissenschaft am Bamberger Institut für Orientalistik, der, zusammen mit seinem kanadischen Kollegen Erik Anonby, Professor für Linguistik an der Carleton University in Ottawa, für Daten aus den neuiranischen Sprachen verantwortlich war.
Ihre gemeinsame Arbeit fand im Rahmen eines Alexander-von-Humboldt-Fellowships statt, das Anonby 2016 bis 2017 einen Aufenthalt in Bamberg ermöglichte. In diesem Zeitraum hat der Bamberger Linguist Haig mit seinem Team zu verschiedenen neuiranischen Sprachen, die eine bedeutende Untergruppe innerhalb des Indoeuropäischen bilden, Datenerhebungen konzipiert und diese in unterschiedlichen Feldforschungskontexten durchgeführt, unter anderem zu Balochi, Kurdisch, Mazanderani und Tati.
„Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse findet nun die mehrjährige Forschungsarbeit einen vorläufigen Abschluss, wobei gerade die iranischen Sprachen ein weites Feld für künftige Forschungen auf diesem Gebiet darstellen“, erläutert Haig.
Aus seiner Sicht bestätigt die Studie, dass die klassischen Fragen der historischen Linguistik wie beispielsweise das Rätsel um die Urheimat der Indoeuropäischen Sprache nur interdisziplinär unter Beteiligung verschiedener Forschungsbereiche wie der Linguistik, der Evolutionsbiologie, der Genetik und der Paläoanthropologie und unter Einsatz von statistischer Modellierung angemessen zu lösen sind.
Weiterführender Link
- Originalpublikation: Heggarty, Paul, et al. (2023): „Language trees with sampled ancestors support a hybrid model for the origin of Indo-European languages“. In: Science 381.
Universität Bamberg, MPI Leipzig