In 200 Übersetzungen um die Welt – Achim Hölters Expedition in die neuere Weltliteratur

In 200 Büchern um den Globus
Bild: Böhlau/UEPO

200 Bücher aus 200 Ländern oder Sprachkulturen ins Deutsche übersetzt und in 200 Wörtern zusammengefasst. Kann man sich so als deutschsprachiger Leser rund um den Globus lesen?

Achim Hölter, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien, wagt das Experiment in seinem jüngsten Buch In 200 Büchern um den Globus – Expeditionen in die neuere Weltliteratur.

Der Literaturwissenschaftler hat sich systematisch durch die aktuelle Weltliteratur gelesen. Aus den großen Nationalliteraturen konnte er nach dem Zufalls- oder Lustprinzip auswählen, während bei sehr kleinen Staaten oder jungen Literaturen nur wenige oder gar nur ein einziger Titel in Frage kamen. Es handelt sich jeweils um integrale Werke, die zumeist nach dem Jahr 2000 erschienen sind.

Im Vorwort schreibt Hölter:

Ein Ziel war, zu testen, ob ich als deutschsprachiger Leser überhaupt eine Chance haben würde, mich komplett um den Globus zu lesen, ein anderes, durch die zufälligen Stichproben einen Überblick zu gewinnen, der unvermutete Beobachtungen im Einzelnen und im Gesamten ermöglicht. […]

Um das nicht ausufern zu lassen, aber auch, um das Ganze möglichst homogen zu gestalten und den Metatexten, die auf diese Weise entstanden, einen ästhetischen Anspruch mitzugeben, entschied ich mich nach gut oulipistischer Manier für eine selbstauferlegte Regel, einen unnötigen, aber fruchtbaren Formzwang: in diesem Fall dafür, jedes der genau 200 Bücher in genau 200 Wörtern zu behandeln.

Das gerät dann mal nüchtern, mal deskriptiv, mal bewundernd, mal kritisch, fast immer sehr dicht, jedenfalls so, dass jedes Wort mit Absicht und Sinn steht, wo es steht.

Kein Ersatz für eigene Lektüre – Es soll Neugier geweckt werden

Dass man diese Texte nicht als Ersatz für eigene Lektüre, sondern als Neugier oder Widerspruch weckende Begleitung – im gleichsam musikalischen Sinne – vor oder nach dem Kennenlernen des jeweiligen Buches zur Kenntnis nehmen sollte, folgt daraus von selbst.

Deshalb ist es ein hybrides und absolut kein wissenschaftliches Buch: ein wenig Einladung, ein wenig Warnung, ein wenig Information, ein wenig Kommentar, aber mit dem Resultat, dass man, wenn man meinem Reisepfad folgt, für vergleichsweise kleines Geld in der traditionellen Form von 200 gedruckten Büchern einmal um die ganze Lesewelt kommt. […]

Goethes Idee der Weltliteratur

Goethe verbreitete 1827 strategisch seine Idee der „Weltliteratur“ und gab dem Terminus gezielt einen Spin, wie man es heute vielleicht ausdrücken würde, der nicht ins Qualitative (also ‚Literatur auf Weltniveau‘), sondern ins Kommunikative und Vielsprachliche tendierte.

Sein „geistiger Handelsverkehr“ sollte als Produkt stetig verbesserter Reise- und Publikationstechniken dazu führen, dass die größten Geister aller Nationen, womit damals primär Europa und allenfalls Amerika und der Orient gemeint waren, in einander inspirierende Verbindung treten würden.

Lange war der Begriff ganz an Goethes Nachwirkung gebunden, auch wenn zunehmend Weltliteraturgeschichten über den eben genannten Horizont hinausblickten, aber erst die als solche erkannte Globalisierung führte auf dem Buchmarkt wie in der Wissenschaft zu einer echten Ausdehnung des Diskursraums und, wenn auch nur in Ansätzen, zu einem Aufbrechen der Schranken, die der Postkolonialismus in Gestalt dominanter Sprachen und Verlagszentren von den Kolonialreichen geerbt hatte.

Alte imperiale Strukturen bilden sich sprachlich ab

Außerdem legte ich mich fest, nur Bücher in deutscher Übersetzung zu lesen, erstens, um gleiche Bedingungen zu erzeugen, zweitens aber, um herauszufinden, wie unser Zugang zum globalen Literaturmarkt beschaffen ist. Um es vorwegzunehmen: Das gelobte Land des Übersetzens scheinen wir nicht mehr zu sein. Wie viele Gegenwartstexte sah ich bei meiner Recherche, die etwa ins Italienische oder Niederländische übersetzt sind, aber nicht ins Deutsche! […]

Über ein Viertel aller hier gelesenen Bücher ist im Original englisch geschrieben (49 Übersetzungen nennen die Ausgangssprache „Englisch“ und weitere neun „Amerikanisch“); das markiert die schon von Goethe gefürchtete Hegemonie recht deutlich, und es erklärt auch, warum es keine wirkliche Herausforderung ist, 80 Bücher der neuen „world literature“ zu finden.

Die alten imperialen Strukturen bilden sich sprachlich ab: 28 Bücher, natürlich viele aus Afrika, sind im Original französisch, 22, vor allem aus Lateinamerika, spanisch, weitere acht portugiesisch, und die zwölf russisch geschriebenen Texte zeugen, meist auch thematisch, von einer postsowjetischen Kondition; insgesamt stammen sogar 17 aus der früheren Sowjetunion. Immerhin elf Bände stehen aber auch für die wachsende Bedeutung oder zumindest steigende Wahrnehmung der arabisch geschriebenen Literatur. Ein entsprechendes Potential an Übersetzer:innen ist im deutschen Sprachraum zweifelsohne vorhanden, dafür sprechen auch die vielen anderen, oft nur einmal auftretenden Sprachen. Zwölf Texte sind übrigens im Original deutsch.

Das zeugt schon davon, dass einige Migrant:innen in unserem Sprachraum integriert sind, wodurch sie Vorteile auf dem heimischen Literaturmarkt genießen, der dadurch Texte, die sich meist mit den jeweiligen Heimatkulturen befassen, bei uns bekannt macht oder sogar erst generiert. Galsan Tschinag, der deutsch schreibt, ist ein Beispiel für die Verschränkung von Sprachen in der heutigen Weltliteratur.

Über den Autor

Achim Hölter
Prof. Dr. Achim Hölter – Bild: Uni Wien

Dr. Achim Hermann Hölter ist seit 2009 Univ.-Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Er war von 2005 bis 2011 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und organisierte 2016 den XXI. Weltkongress der International Comparative Literature Association in Wien „The Many Languages of Comparative Literature“.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Romantikforschung, Themen- und Diskursforschung, Kunst- und Literaturhistoriographie, Ritualisierungen der Literatur, Ästhetische Selbstreferenz, Comparative arts, Internationale Rezeptionsgeschichte, Kanonforschung, Bibliotheken und Literatur.

Lesung in Düsseldorf

Achim Hölter liest am 6. November 2023 um 19:30 Uhr im Düsseldorfer Literaturhaus (Heine-Haus) aus dem hier vorgestellten Werk. Das Geburtshaus Heinrich Heines steht in der Bolkerstraße 53, im Zentrum der Düsseldorfer Altstadt mit der „längsten Theke der Welt“ (Link zur Veranstaltung).

Bibliografische Angaben

  • Achim Hölter (2023): In 200 Büchern um den Globus – Expeditionen in die neuere Weltliteratur. Wien: Böhlau Verlag. 353 Seiten, 200 farbige Abbildungen, 35 Euro, ISBN 978-3-205-21777-0. Auf Amazon bestellen.
In 200 Büchern um den Globus
Bild: Böhlau

Böhlau/red