Der renommierte Literaturpreis der Kunststiftung NRW – Straelener Übersetzerpreis geht 2024 an die Tschechisch-Übersetzerin Eva Profousová für ihre Übertragung des Romans Ein empfindsamer Mensch von Jáchym Topol (Suhrkamp, 2019). Der Preis wird unter besonderer Würdigung ihres übersetzerischen Gesamtwerks vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert.
Den mit 5.000 Euro dotierten Förderpreis erhält Lisa Mensing für ihre Übersetzung des Romans Birkenschwester von Caro Van Thuyne aus dem Niederländischen.
Profousová floh 1983 aus Tschechoslowakei
„Die empfindsame Navigation der Übersetzerin lässt kein Detail außer Acht und wird der Spannung der Vorlage durchweg gerecht. Es gibt kaum einen Satz, der nicht eine besondere übersetzerische Schwierigkeit zu überwinden hätte, und doch sprüht die Freude am Spiel dem Text aus allen Poren“, heißt es in der Begründung der Jury.
Eva Profousová wurde 1963 in Prag geboren. Nach ihrer Flucht aus der Tschechoslowakei 1983 studierte sie an der Universität Hamburg Neuere osteuropäische Geschichte und Slawistik. Ihre Anstellung im neu gegründeten Honorargeneralkonsulat der Tschechischen Republik (1992-2002) brachte sie zur tschechischen Kultur zurück und zum Übersetzen – zunächst im Tandem mit Freundinnen und Studienkolleginnen, später allein.
2002 bis 2004 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der von der Robert-Bosch-Stiftung herausgegebenen Reihe Die Tschechische Bibliothek tätig. Seitdem arbeitet sie fast ausschließlich als freiberufliche Literaturübersetzerin aus dem Tschechischen, kuratiert Festivals und Lesereihen, moderiert Literaturabende, tritt selbst als Vorleserin auf.
2023 ist ihre erste Übersetzung aus dem Slowakischen erschienen, der zweiten Sprache ihrer tschechoslowakischen Kindheit. Neben ihrer übersetzerischen Tätigkeit setzt sie sich für eine größere Sichtbarkeit der Literaturübersetzer ein.
Nach 35 Jahren in Hamburg ist sie 2018 nach Berlin gezogen, wo sie bis heute lebt.
Aus dem Tschechischen übersetzte sie u.a. Bücher von Radka Denemarková, Jaroslav Rudiš, Katarína Kucbelová, Jáchym Topol, Kateřina Tučková und Petr Zelenka.
Bisherige Auszeichnungen:
- 2022 – Brücke-Berlin-Übersetzerpreis (gemeinsam mit Radka Denemarková)
- 2012 – Georg Dehio-Ehrenpreis (gemeinsam mit Radka Denemarková)
- 2011 – Usedomer Literaturpreis (gemeinsam mit Radka Denemarková)
- 2010 – Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen
„Husarinnenstück von einer Übersetzung“
Die Jury schreibt in ihrer Begründung:
Eva Profousová hat mit Jáchym Topols Ein empfindsamer Mensch ein Husarinnenstück von einer Übersetzung vorgelegt. Furchtlos folgt sie dem Autor und seinem Heldenkollektiv, einer tschechischen Schaustellerfamilie auf Europatour, durch wilden Slapstick, krachlederne Derbheit, irrwitzige Fügungen, Registersprünge und Tonartwechsel. Sie folgt, scheint aber voranzugehen, denn sie beschreitet eigene, ganz und gar unabhängige sprachliche Wege und schafft so ein Idiom, das Topols fantastischer, wüst-fantasievoller Umgangssprache ebenbürtig ist. Genau darin liegt die Kunst der Entsprechung.
Die empfindsame Navigation der Übersetzerin lässt kein Detail außer Acht und wird der Spannung der Vorlage durchweg gerecht. Es gibt kaum einen Satz, der nicht eine besondere übersetzerische Schwierigkeit zu überwinden hätte, und doch sprüht die Freude am Spiel dem Text aus allen Poren. Profousovás plurilinguales Sprachkunstwerk bewegt sich gewandt zwischen erlebter und Erzählerrede, es ergründet die Jargons der aufmüpfigen Figuren und tänzelt ohne Netz über unerforschte Gebiete des Wortwitzes.
Eva Profousová, die auch für ihr Lebenswerk als Übersetzerin von Autor:innen wie Jaroslav Rudiš, Michal Viewegh und Radka Denemarková ausgezeichnet wird, beschreibt ihren Weg ins Deutsche als Übersetzungssprache als Aneignung einer neuen Heimat, und zugleich als eine Art Bildungsprojekt: Indem sie „dem deutschen Text die Atmung des Originals“ beibringt, versucht sie zugleich „zu einer sprachlich-gesellschaftlichen Polyphonie beizutragen“ (Eva Profousová). Was das heißt, ist hier auf jeder Seite nachzulesen.
Profousová übersetzt nicht in ihre Muttersprache, sondern ins Deutsche, in dessen Sprachraum sie sich seit 41 Jahren bewegt. Diesen Umstand des Übersetzens in die Zweitsprache hat sie 2022 im folgenden Essay thematisiert: „Du sollst nicht begehren die Sprache deines Nächsten – Übersetzen in eine andere als die eigene Muttersprache„.
Mensing hat in Münster und Utrecht studiert
Den Förderpreis des Straelener Übersetzerpreises erhält Lisa Mensing für ihre Übersetzung des Romans Birkenschwester von Caro Van Thuyne (Maro Verlag, 2024) aus dem Niederländischen, welche die Jury „als außerordentlich kunstvoller Balanceakt überzeugt und begeistert“ hat.
Lisa Mensing wurde 1989 geboren und ist im westfälischen Hamm aufgewachsen. Heute lebt sie in Münster und arbeitet dort als Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie hat an der Universität Münster und der Universität Utrecht Germanistik, Interdisziplinäre Niederlandistik und Literarisches Übersetzen studiert.
Sie übersetzt Prosa, Theaterstücke, Poesie und Essays aus dem Niederländischen ins Deutsche. Seit 2019 arbeitet Mensing in Teilzeit am Institut für Niederländische Philologie der Universität Münster und hat 2020 zusammen mit Professorin Lut Missinne den Leitfaden Wege nach Translantis für das Literaturübersetzen aus dem Niederländischen veröffentlicht.
Seit Oktober 2020 arbeitet sie ehrenamtlich als Redakteurin bei TraLaLit, dem Online-Magazin für übersetzte Literatur, das 2023 mit der Übersetzerbarke des Literaturübersetzer-Verbands VdÜ ausgezeichnet wurde. Darüber hinaus organisiert und moderiert sie Lesungen und Workshops rund um die Themen Übersetzungsarbeit und übersetzte Literatur.
Aus dem Niederländischen übersetzte sie u. a. Werke von Frank Martinus Arion, Maurits de Bruijn, Connie Palmen, Gaea Schoeters, Caro Van Thuyne, Gerda Blees und Peter Zantingh.
„Fabelhaftes Gespür für die Syntax“
In der Begründung der Jury heißt es:
Wie übersetzt man eine Kommunikation, die jenseits des Sagbaren liegt? Lisa Mensings Birkenschwester lässt sich ein auf die Versprachlichung einer wortlosen und innigen Nähe. Da ist ein Mädchen, das nur über Berührungen hören, sehen und sprechen kann, und dennoch verständigt es sich mit der Schwester: in einer Sprache der Lautlosigkeit. Und da ist die Trauer um den Verlust eines Kinds, der mit Worten nicht beizukommen ist.
Die Semantik des Textes ist also nicht nur mit dem „Sinn“ verknüpft, sondern buchstäblich mit den Sinnen – und Lisa Mensing findet für Caro van Thuynes ausgefallene Bilder des Erfühlens, die ihrerseits Übersetzungsleistungen sind, genaue und feinsinnige Entsprechungen im Deutschen. Dabei balanciert die Nachschöpferin über ein erzählerisches Seil, das mehr durch atmosphärische Zustände als durch konkrete Handlungsabläufe gespannt ist. Ihr fester, sicherer Ton schafft den Raum, in dem die Doppelbödigkeit und Fragilität des Texts sich entfalten können.
Dies gelingt nicht zuletzt dank ihres fabelhaften Gespürs für die Syntax: Die Sätze ruhen in sich und spinnen die Erzählung trotzdem fort. Lisa Mensing zeigt sich hier nicht nur als ernsthafte Übersetzerin, sondern als Gleichgewichtskünstlerin.
Ihre Übertragung von Caro Van Thuynes Roman Birkenschwester hat uns als außerordentlich kunstvoller Balanceakt überzeugt und begeistert.
Preisverleihung ausnahmsweise in Düsseldorf
Die Preisverleihung findet am 29. Oktober 2024 in Düsseldorf am Sitz der Kunststiftung NRW statt, weil das Europäische Übersetzer-Kollegium (EÜK) in Straelen zurzeit umfassend energetisch saniert wird und für mindestens ein Jahr geschlossen bleibt.
Der Literaturpreis der Kunststiftung NRW – Straelener Übersetzerpreis gehört mit seiner Dotierung von 25.000 Euro neben dem Paul-Celan-Preis und dem Wilhelm-Merton-Preis zum Dreigestirn der höchstdotierten deutschen Übersetzerpreise. Lediglich in der Schweiz gibt es mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium eine noch höher dotierte Auszeichnung (51.466 Euro / 50.000 CHF), sodass der Straelener Übersetzerpreis auch auf europäischer Ebene herausragt.
Straelener Preis gilt als Oscar der Branche
Wegen seiner Verbindung zum Europäischen Übersetzer-Kollegium, mit dem jeder Literaturübersetzer früher oder später in Kontakt kommt, besitzt der Straelener Preis unter den deutschen Auszeichnungen das höchste Renommee und gilt als „Oscar“ der Branche.
Ein früherer Preisträger drückte es einmal so aus: Man habe in Straelen das Gefühl, von der Gemeinschaft der Literaturübersetzer ausgezeichnet zu werden – und nicht, wie bei vielen anderen Preisen, von einer fachfremden Stiftung und Jury.
Fünfköpfige Jury
Der Jury des Jahres 2024 gehörten an:
- Michael Kegler – Übersetzer aus dem Portugiesischen
- Anne-Dore Krohn – Literaturredakteurin bei rbb Kultur
- Theresia Prammer – Publizistin und Übersetzerin aus dem Französischen und Italienischen
- Olga Radetzkaja – Übersetzerin aus dem Russischen
- Ulrich Sonnenberg – Übersetzer aus dem Dänischen und Norwegischen
Weiterführender Link
- Gespräch des WDR-Hörfunks mit Eva Profousová (7 Minuten)
PM Kunststiftung NRW, Richard Schneider