Wiener Krankenhaus: Wenn Reinigungskräfte dolmetschen

Bereits seit einigen Wochen erscheinen in der Presse Nachrichten über den immer noch fehlenden Dolmetschdienst im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien (AKH). Da die Ambulanzen über keinen eigenen Dolmetschdienst verfügen, müssen oft die Verwandten als Dolmetscher einsprigen.

Dass ein Sechsjähriger nichts über Gynäkologie o. Ä. weiß, ist völlig normal für sein Alter. Wird ein Kind jedoch in die Notaufnahme geschickt, um dort zu dolmetschen, wird dieser Umstand zu einem Problem. Wie in dem folgenden Fall: Eine Türkin wird mit Unterbauchschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Der deutschen Sprache war die Frau kaum mächtig, weshalb der kleine Sohn aushelfen sollte. „Soll ich dem Kind im Schnellverfahren den weiblichen Zyklus erklären, um zu erfahren, wann seine Mutter die letzte Regel hatte?“, fragt sich Peter M., Notfallmediziner am AKH. Auch wenn beispielsweise ein 20-jähriger Sohn, der als Dolmetscher fungieren soll, eine Behandlungsmethode ablehnt, weil er sich intrafamiliär positionieren möchte, kann dies schwerwiegende Folgen für die Patientin haben.

Viele Migranten leiden an Depressionen, die sie als Ganzkörperschmerzen empfinden. Weil es auch in der Psychologie-Ambulanz keine Dolmetscher gibt, müssen, wie bereits erwähnt, die Freunde oder Verwandte mitkommen und diese Aufgabe übernehmen. „Bei Kindern ist es fast Missbrauch, sie dafür einzuspannen“, berichtet die Leiterin Andrea Topitz. Eine positive Sache habe jedoch der Umstand, dass die Verwandten oder Bekannten mit in der Therapie anwesend sind, sagt Karin Fehringer, die Sprecherin des AKH. Diese würden nämlich die Probleme der Patienten genau kennen.

Diese Situationen sind bzw. waren kein Einzelfall im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien. Circa 50 Prozent der bis zu 450 Patienten stammen aus der Türkei oder Ex-Jugoslawien. Einen eigenen Dolmetschdienst hat das Krankenhaus aber nicht. Früher wurde das Reinigungspersonal für das Dolmetschen hinzugezogen. Die Situationen, die sich daraus ergeben, ähnelten allerdings denen der Stillen Post.

Alexandra Jurek-Schick, Stimmtrainerin und ehemalige Logopädin an der Klinischen Abteilung Phoniatrie-Logopädie, nahm an einer Studie von Dr. Franz Pöchhacker, Dolmetschdozent an der Universität Wien, teil. Pöchhacker beschäftigte sich mit dem Thema „Die Putzfrau als Dolmetscherin im Spital“. Im Rahmen dieser Studie wurden zwei Fälle auf Video aufgenommen, um zu schauen, wie eine Laie dolmetscht und wo ihre Schwäche liegen bzw. welche Probleme aufkommen. Nachfolgend die beiden Fälle, die Jurek-Schick Anfang Februar 2012 in der österreichischen Tageszeitung Der Standard veröffentlicht hat:

Fall 1: Eine türkische Familie kommt zu uns. Die Eltern kommen mit einem vier- bis fünfjährigen Kind, die Schwester der Mutter soll übersetzen. Sie wollen wissen, ob mit der Zunge des Kindes alles in Ordnung ist, weil es nicht so gut spricht. Wir, das Team der Phoniatrie, glauben, dass sie sich um die Sprachentwicklung des Kindes Sorgen machen, keine Rede von der Zunge, das kommt erst bei der Übersetzung heraus. Ich mache die Anamnese, mit Einstiegsfragen, die bei uns üblich sind: Wie war die Schwangerschaft? Wie war die Geburt, wie groß, wie schwer etc.

Die Eltern wirken nicht sehr kooperativ, im Laufe der Untersuchung eher desinteressiert, sie kommen nach dieser ersten Untersuchung nicht mehr, obwohl es aus logopädischer Sicht Handlungsbedarf gegeben hätte. Als wir uns das Video mit professioneller Übersetzung anschauen, sehen wir folgende Übersetzung der Schwester bei der Frage nach der Schwangerschaft:

Schwester: „Wie die Geburt war.“
Mutter: „Normal, warum fragt sie so was? Ich will wissen, ob mit der Zunge alles in Ordnung ist.“
Schwester: „Normal.“
Logopädin: „Wie war die Geburt?“
Schwester: „Wie war die Geburt, fragt sie schon wieder.“
Mutter: „Aber das hab‘ ich ihr schon gesagt, wieso will sie das noch einmal wissen?“
Schwester: „Auch normal.“

Fall 2: Ein acht- oder neunjähriges, aus dem Jugoslawienkrieg traumatisiertes Kind kommt. Es stotterte. Das Logopädenteam wollte einige Entspannungsübungen im Liegen machen. Übersetzerin war diesmal eine Putzfrau.

Setting: Das Kind liegt, ich (oder meine Kollegin – das weiß ich nicht mehr) knie neben dem Kind, die Putzfrau beim Kopf des Kindes. Es soll eine Atem- und Wahrnehmungsübung gemacht werden.

Therapeutin: „Leg deine Hände auf deinen Bauch und spüre die Atembewegung.“
Putzfrau: „Mach die Augen zu, brauchst keine Angst haben.“
Therapeutin: „Der Atem fließt ein und aus, die Bewegung spürst du im Bauch.“
Putzfrau: „Spürst du, macht nichts, brauchst keine Angst haben, ich bin eh da.“

Das Aushilfsdolmetschen ist nicht mehr erlaubt. Wobei: Es gibt eine Intranet-Liste am Wiener AKH, in der 80 Mitarbeiter, die insgesamt 31 Sprachen abdecken, eingetragen sind. Die soll der Arzt, wenn er sie benötigt, anrufen. Aber: „Ich kann nicht ständig Kollegen von ihrer Arbeit wegholen“ , so Peter M.

Die Folgen der Sprachbarrieren im Krankenhaus liegen in einer längeren Wartezeit für die Patienten, Mehrkosten für das AKH sowie in Problemen in der Nachbehandlung. Schließlich verstehen die Patienten mit ausländischen Wurzeln die Überweisung oder Medikamentenverordnungen nicht. Dazu sagt der Notfallarzt: „70 Prozent unserer Arbeit verpufft.“

[Text: Jessica Antosik. Quelle: derstandard.at, 25.01.2012/03.02.2012. Bild: Archiv.]