Arbeitstagung Gerichtsdolmetschen: „Polizei und Justiz setzen meist unqualifizierte Dolmetscher ein“

Bei der Polizei, der Justiz und im Strafvollzug würden meist unqualifizierte Laiendolmetscher eingesetzt. Ein faires Verfahren sei dadurch nicht immer gewährleistet. Zu diesem Schluss kam am Montag in Wien eine hochkarätig besetzte Arbeitstagung zum Thema Gerichtsdolmetschen. Am Mittwoch wurden die Ergebnisse und Lösungsvorschläge der Presse vorgestellt.

Rund 1.400 Personen für 49 Sprachen werden in Österreich in der Liste der beeideten und gerichtlich zertifizierten Dolmetscher aufgeführt. Für viele Sprachen reiche dies jedoch nicht aus, erklärte Christine Springer, Präsidentin des Österreichischen Verbandes der Gerichtsdolmetscher. So gebe es keinen einzigen zertifizierten Dolmetscher für irgendeine afrikanische Sprache und nur eine Dolmetscherin für Georgisch. (In Österreich besteht derzeit ein erheblicher Bedarf für Georgisch, weil zahlreiche Prozesse gegen organisierte georgische Einbrecherbanden laufen, die die Alpenrepublik in den letzten Jahren heimgesucht haben.) Ebenfalls unterbesetzt seien viele asiatische Sprachen.

Die Folge: Es werden notgedrungen Leute ad hoc beeidet, die nicht die entsprechenden Prüfungen vor einer Kommission abgelegt haben. Nach Einschätzung von Richter Dr. Oliver Scheiber beauftragt die Polizei in weniger als einem Viertel der Fälle qualifizierte Gerichtsdolmetscher. Meist würden Angehörige oder Bekannte der Verdächtigen oder der Opfer herangezogen. Auch im Strafvollzug werde „sehr viel von Mitgefangenen oder der Justizwache gedolmetscht“.

„Die Polizei ist nicht wählerisch“, so Christine Springer. Sie habe die Visitenkarte eines Polizeidolmetschers zu sehen bekommen, der sich als „Dolmetschen allen slawischen Sprachens“ auswies.

Mira Kadric, Studienprogrammleiterin des Zentrums für Translationswissenschaften an der Universität Wien, wies darauf hin, dass Laiendolmetscher die Dolmetschtechniken nicht beherrschen. Zudem mangele es ihnen an Berufsethik und Neutralität. Kadric: „Wenn sie bei polizeilichen Vernehmungen tätig werden, glauben sie, sie sind Hilfssheriffs.“

Richterin Mia Wittmann-Tiwald appellierte an die Gerichte, Urteilsbegründungen gegen Ausländer in leicht verständlicher Sprache zu verfassen, um die Verdolmetschung zu erleichtern. Bei größeren Gerichten sollten Simultandolmetschanlagen errichtet werden. Ansonsten regte sie ein „durchgehendes Flüsterdolmetschen“ an. Dafür müssten die Dolmetscher aber vorab ausreichend über den Prozessgegenstand informiert werden.

Enquete Gerichtsdolmetschen am 2. Oktober 2006 im Justizpalast Wien

Eine gemeinsame Veranstaltung der Fachgruppe „Grundrechte“ der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter und des Bundesministeriums für Justiz in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Verband der Gerichtsdolmetscher und dem Österreichischen Gebärdensprach-DolmetscherInnen-Verband

Moderation: Univ.-Prof. HR Dr. Wolfgang Gratz
Kontakt: Dr. Oliver Scheiber

Programm

09.30 Eröffnung

Karin Gastinger
Karin Gastinger

Mag. Karin Gastinger, Bundesministerin für Justiz
Dr. Oliver Scheiber, Kovorsitzender der Fachgruppe Grundrechte in der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter

Block 1

09.45 Bestandsaufnahme: Dolmetschen bei Gericht
Einleitungsreferat: Univ.-Prof. Erik Hertog, Lessius Hogeschool, Antwerpen

10:30 Kurzstatements:
Dr. Bettina Maurer-Kober, Mitglied des Bundesasylsenats

Erich Prunc
Erich Prunc

Univ.-Prof. Erich Prunc, Universität Graz
Dr. Ulrike Psenner, Präsidentin d. LG f. Strafsachen Wien
Dipl.-Dolm. Christine Springer, Präsidentin des Österreichischen Verbands der Gerichtsdolmetscher
Dr. Ingrid Siess-Scherz, BKA-VD, Leiterin der Abt. V/A/5
Dr. Alexia Stuefer, Rechtsanwältin

11.00 Pause

Block 2

11.20 Arbeitsgruppen

Arbeitsgruppe 1

Umfang der Dolmetschung in der Gerichtsverhandlung: Dolmetschen im Lichte des fairen Verfahrens nach Art 6 EMRK

Wie und in welchem Umfang soll die Verhandlung gedolmetscht werden? Kann die Gleichstellung der fremdsprachigen Partei eher durch simultane oder durch konsekutive Übersetzung erreicht werden?

Moderation: LStA Dr. Christian Pilnacek, BMJ, Leiter der Abt. II 3

Kurzstatements:
Caroline Morgan, Europäische Kommission

Heinz Patzelt
Heinz Patzelt

Dr. Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich
Dr. Ingrid Siess-Scherz, BKA-VD, Leiterin der Abt. V/A/5
Dr. Friedrich Forsthuber, Richter des OLG Wien

Arbeitsgruppe 2

Dolmetschen im Strafverfahren und vor der Polizei

Qualitätssicherung beim Polizeidolmetschen: In welchem Ausmaß werden nicht allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte DolmetscherInnen eingesetzt? Und warum? Ist die Video/Audio-Aufzeichnung ein geeignetes Mittel zur Qualitätskomtrolle?

Moderation: Mag. Manfred Herrnhofer, Richter, Vizepräsident der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter

Kurzstatements:
Mag. Elisabeth Horn, allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Dolmetscherin
Dr. Alexia Stuefer, Rechtsanwältin
Dr. Peter Trabitsch, BMI, Abt. II 1

Arbeitsgruppe 3

Sprachen mit Mangel an Dolmetschern (afrikanische Sprachen, asiatische Sprachen)

In welchen Sprachen besteht generell ein Mangel? Ist ein Ausweichen auf Englisch/Französisch vertretbar? Welche Mittel können Abhilfe schaffen?

Moderation: Dr. Hagen Nordmeyer, Staatsanwalt, BMJ, Abt. IV 1, Fachgruppe Grundrechte

Kurzstatements:

Christiane Driesen
Christiane Driesen

Prof. Dr. Christiane Driesen, FH Magdeburg
HR Dr. Klaus Krainz, Bundesasylamt

Walter Schicho
Walter Schicho

Univ.-Prof. Dr. Walter Schicho, Vorstand d. Instituts f. Afrikanistik, Universität Wien

Arbeitsgruppe 4

Gebärdensprachdolmetschen

Spezifische Probleme gehörloser Personen vor Gerichten und Behörden

Moderation: Mag. Alice Prutsch, Richterin, BMJ, Abt. III 3

Kurzstatements:
Barbara Gerstbach, Österreichischer Gebärdensprach- DolmetscherInnenverband
Univ.-Prof. Dr. Erich Prunc, Universität Graz
Günter Roiss, Österreichischer Gehörlosenbund

Arbeitsgruppe 5

Dolmetschen im Stafvollzug

Status quo im Strafvollzug. Wo sind Dolmetschungen nötig, wo besteht Verbessserungsbedarf?

Moderation: LStA Dr. Irene Köck, BMJ, Abt. V.3

Kurzstatements:
Oberst Helmuth Froner, Leiter der Justizanstalt Suben
Barbara Oberbauer, Sozialer Dienst Justizanstalt Simmering
Mag. Elisabeth Frank-Grossebner, allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Dolmetscherin

13.00 Mittagspause

Block 3

14.00 Berichte aus den fünf Arbeitsgruppen

Podium: die LeiterInnen der Arbeitsgruppen

15.00 Pause

Block 4

15.30 Podiumsdiskussion: Lösungsansätze und Ausbildungsmodelle

Vorsitz: Dr. Oliver Scheiber, Kovorsitzender der Fachgruppe Grundrechte

Podium:

Gerhard Budin
Gerhard Budin

Univ.-Prof. Gerhard Budin, Leiter des Zentrums für Translationswissenschaft, Universität Wien
Mag. Manfred Herrnhofer, Vizepräsident der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter
Prof. Erik Hertog, Lessius Hogeschool, Antwerpen
Dipl.-Dolm. Liese Katschinka, Österreichischer Verband der Gerichtsdolmetscher
LStA Dr. Constanze Kren, BMJ, Leiterin der Abt. III 3
Carolin Morgan, Europäische Kommission
LStA Dr. Christian Pilnacek, BMJ, Leiter der Abt. II 3
Univ.-Prof. Dr. Erich Prunc, Institut für Translationswissenschaft, Universität Graz
LStA Dr. Maria Wais, BMJ, Abt. I 6

17.30 Schlussworte

[Text: Richard Schneider. Quelle: Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter; Presse, 2006-10-05; Kurier, 2006-10-04; ORF, 2006-10-04. Bild: Bundesministerium der Justiz, Uni Wien, Uni Graz, FH Magdeburg, ai-Presseservice.]