Oberlehrer Deutschland: Die China-Kritik aus Anlass der Olympischen Spiele

Olympische Spiele Beijing 2008
Bild: IOC

China ist wegen der Olympischen Sommerspiele in Beijing schon seit Wochen das Hauptthema in den Medien. Wie bei solchen Anlässen üblich erscheinen zahlreiche Dokumentationen und Sondersendungen über Land und Leute. So weit, so gut.

Höchst ungewöhnlich ist jedoch die bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit geäußerte China-Kritik. Gerade Deutschland gebärdet sich dabei als Oberlehrer und behandelt ein 1,3-Milliarden-Volk mit 5.000-jähriger Geschichte wie eine aufmüpfige Überseekolonie. Gefordert werden Menschenrechte, Demokratie und Pressefreiheit – und zwar sofort.

Eine Vielzahl völlig unbekannter Sportler kündigt an, an der Eröffnungsfeier nicht teilnehmen zu wollen, um gegen die Verletzung der Menschenrechte zu protestieren. Athleten, die sich in China auskennen und das alles ganz anders sehen, können sich da kaum Gehör verschaffen.

Ein Beispiel ist Britta Heidemann, die schon mehr als 20 Mal in China war und in Köln chinesische Regionalwissenschaften studiert. Sie befürwortet die Entscheidung des IOC, die Spiele in Beijing auszutragen. (Heidemann gewann gestern die Goldmedaille im Degenfechten.)

Die Belehrung der Chinesen und der deutschen Öffentlichkeit nimmt nicht selten groteske Züge an. Etwa wenn Das Erste bei der Fernsehübertragung der Eröffnungsfeier dem Sportreporter erstmals eine politische Kommentatorin zur Seite stellt.

Sandra Maischberger kennt sich zwar weder im Sport noch in Asien aus, aber sie sorgte dafür, dass bei all der Begeisterung für die beeindruckende Eröffnungsfeier die moralischen Verfehlungen des Gastgeberlandes nicht vergessen wurden: „Wir wissen natürlich, dass unter diesen Kostümen auch Tibeter und Uiguren stecken, denen alles andere als zum Tanzen zumute ist.“

In den ungefilterten Meinungsforen des Internets treten jahrhundertealte Vorurteile offen als China-Hass zutage. Einige Argumente erinnern dabei an das um 1900 herum („Boxeraufstand“) übliche Gerede von der „gelben Gefahr“. Auch der Spiegel agitiert fleißig mit. Heft 35/2007 brachte folgende Titelgeschichte: „Die gelben Spione – Wie China deutsche Technologie ausspäht“.

Für den Westen liegt das neue „Reich des Bösen“ offenbar in Fernost. Nach den Deutschen, den Russen und den Moslems müssen sich die Chinesen nun darauf gefasst machen, in künftigen James-Bond-Filmen als Bösewichte herzuhalten.

Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt warnte schon im Mai 2008 in der Zeit:

Weil China den Tibetern „die Menschenrechte verweigert“, erlebt die westliche Welt […] eine Welle antichinesischer Proteste und Propaganda – vom Internet und von CNN bis zum olympischen Fackellauf und bis in einige Staatskanzleien Westeuropas. Dabei mischen sich idealistische Motive mit Antikommunismus und mit Angst vor dem aufstrebenden Konkurrenten China. […] Wer von außen sich an solcher Zuspitzung [des Tibet-Konflikts] beteiligt, der verkennt die Vitalität Chinas und sein künftiges wirtschaftliches und politisches Gewicht in der Welt. […] Unserer Regierung ist Abstand und Respekt anzuraten – vor China und vor jeder Religion.

Im Juli 2008 wies dann das Evangelische Missionswerk in Deutschland auf die „verengte Sichtweise der westlichen Medien auf China“ hin. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass China nicht berechtigt sei, die Olympischen Spiele auszutragen, erklärte die Vorsitzende des Missionswerks, Bischöfin Maria Jepsen. Die Tibetfrage dürfe nicht für eine generelle China-Feindlichkeit instrumentalisiert werden. Jepsen: „Viele Menschen in China nehmen die Berichte in unseren Medien als Wiederbelebung einer traditionellen anti-chinesischen Stimmung im westlichen Ausland wahr.“

Viele der oft jungen, naiven Tibet-Aktivisten leben in der Illusion, in Deutschland herrsche Meinungsfreiheit. Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes und früherer Politiker der Grünen, wies vor Ort in Beijing darauf hin, dass nicht nur in China, sondern auch in Deutschland missliebige Internet-Seiten für die Öffentlichkeit gesperrt werden. Dafür wurde er von allen Seiten heftig kritisiert und war gezwungen, eine relativierende Erklärung abzugeben, um seinen Kopf zu retten.

Dabei hätte er noch hinzufügen können: Auch in Deutschland wird man ins Gefängnis geworfen, wenn man sich im Internet die falschen Bilder anschaut oder zuhause im Regal verbotene Bücher stehen hat. Und wer Meinungen ausspricht, die nicht konsensfähig sind, wird sozial geächtet.

Im Gegensatz zu China gibt es in Deutschland zwar nur sehr wenige, eng umrissene Tabus und Denkverbote, diese werden von staatlicher Seite und von den Medien aber unerbittlich durchgesetzt.

Zu bedenken ist auch, dass die Entwicklung in China klar erkennbar in Richtung mehr Freiheit geht, während sie in den westlichen Gesellschaften nicht erst seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in die entgegengesetze Richtung verläuft. Die individuellen Freiheitsrechte werden in Deutschland von Jahr zu Jahr stärker eingeschränkt und die vorbeugende Überwachung aller Bürger intensiviert:

Das Bankgeheimnis ist bereits abgeschafft. Die Telefon- und Internet-Verbindungsdaten aller Bürger werden gespeichert. Bei den Mobilfunkdaten werden auch die Standorte gespeichert, an denen telefoniert wurde, die Mautbrücken auf der Autobahn erfassen sämtliche Kennzeichen, so dass umfassende Bewegungsprofile von Personen und Fahrzeugen erstellt werden können, die heute schon zur Aufklärung von Verbrechen genutzt werden. Im kommenden Jahr wird eine als Steuernummer getarnte, lebenslang gültige Personenkennziffer eingeführt.

So gesehen sind viele Forderungen gegenüber China verlogen und heuchlerisch. Die Protestposen der deutschen Regierung sind in den Augen des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder „ritualisierte, symbolhafte und nur für die deutsche Öffentlichkeit gedachte Aktivitäten“.

Um bei den Wählern gut dazustehen, übt man Kritik, aber hinter den Kulissen machen Deutsche und Chinesen unbeirrt das, was sie am liebsten machen: gute Geschäfte. Und insgeheim hoffen alle, dass die KP in China noch möglichst lange die Zügel straff in der Hand hält.

Die rechthaberische Kritik zweitrangiger Politiker, der Medien und der Kulturschickeria an einem (noch) unterlegenen Konkurrenten ist von historischer Unkenntnis und Intoleranz gegenüber anderen Kulturen geprägt.

Eine mögliche Erklärung für dieses Verhalten: Die Kritik ist ein Symptom der Zukunfts- und Verlustängste einer vergreisenden, schrumpfenden Gesellschaft, deren nationale Identität zunehmend zerbröselt.

Schon in wenigen Jahrzehnten wird China die einzige Weltmacht sein, da sind sich die meisten Politiker und Wirtschaftswissenschaftler einig. Was also tun? Chinesisch lernen! Oder eben, weil es nichts kostet und einfach schick ist, auf China einprügeln. Solange man sich das noch leisten kann.

Richard Schneider

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