Sprachwandel im Deutschen: Fugen-s und Perfekt auf dem Vormarsch

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Vor etwa 50 Jahren war es noch ganz normal, von „Schadenersatz“ zu sprechen. Heute überwiegt die Bezeichnung „Schadensersatz“ bei Weitem. Das Fugen-s hat sich durchgesetzt. Nicht nur in diesem Fall, sondern bei zahlreichen anderen zusammengesetzten Wörtern findet sich an der Schnittstelle heute ein Fugenelement.

Ausweitung der s-Verfugung

Damaris Nübling
Damaris Nübling – Bild: JGU

„Das Deutsche erlebt derzeit eine enorme Ausweitung der s-Verfugung“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Damaris Nübling von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. „Es gibt zwar noch andere Fugenelemente, aber keines davon erfährt eine so rasante Verbreitung wie das -s.“ Warum sich die s-Fuge im Sprachgebrauch so unaufhaltsam durchsetzt und wann diese Entwicklung ihren Anfang genommen hat, wird derzeit in einem Forschungsprojekt am Deutschen Institut der Universität untersucht.

Präteritum wird durch Perfekt verdrängt

Die Entstehung der deutschen Sprache wird auf das 8. Jahrhundert n. Chr. datiert. Das Deutsche hat seither viele Veränderungen der Aussprache und der Wort- und Satzbildung erfahren, sodass es mittlerweile mit dem Althochdeutschen kaum noch etwas gemein hat. „Selbstverständlich vollzieht sich Sprachwandel auch heute noch. Zum Beispiel verschwindet das Präteritum immer mehr zugunsten des Perfekts“, erklärt Nübling.

Frage nach den Ursachen beschäftigt die Wissenschaft

Neben der Dokumentation der einzelnen Sprachwandelphänomene interessieren sich die Sprachwissenschaftlerinnen besonders für die Gründe der ständigen Veränderungen. Warum sagen wir „Arbeitslose“ und nicht mehr „Arbeitlose“? Warum sprechen wir von „Verkaufspreis“, andererseits aber von „Kaufpreis“? Weshalb gebraucht das Deutsche so viele Fugenelemente, im Gegensatz etwa zum Englischen, und wie sind die Regeln ihrer Verteilung?

Über die Gründe der s-Verfugung gibt es verschiedene Theorien, die die Mainzer Linguistinnen allerdings nicht zufriedenstellen. Sie vermuten, dass es sich bei dem Fugen-s um eine Kennzeichnung handelt, die anzeigt, dass ein Wort noch nicht zu Ende ist. „So kann der Zuhörer ein komplexes Wort besser erkennen und weiß auch gleich, wo die Grenze zwischen den beiden Gliedern verläuft“, meint Kristin Kopf, die sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Deutschen Institut mit der Frage beschäftigt. Eine „rezipientenorientierte Interpretationshilfe“ also – dafür wird dem Sprecher einiges abverlangt. Das Wort „Ankunftszeit“ beispielsweise ist von Ausländern kaum auszusprechen. „Es gibt Sprachen, die eine solche Anhäufung von Konsonanten gar nicht erlauben“, erklärt Kopf mit einem Hinweis auf die Silbensprachen, wozu Spanisch und Italienisch gehören.

Althochdeutsch war eine Silbensprache, das aktuelle Deutsch ist eine Wortsprache

Auch Althochdeutsch war noch eine Silbensprache, aber das Deutsche ist zu einer Wortsprache geworden, die sich dadurch auszeichnet, dass das Wort als Informationseinheit Vorrang hat und Wortgrenzen daher stärker markiert werden – ebenso wie im Englischen. „Sprachwandel ist ein ständiges Austarieren zwischen Hörer- und Sprecherinteressen“, erläutert Nübling. „Die Entwicklung des Deutschen zu einer Wortsprache, die dem Hörer viel Serviceleistungen gibt, wird durch die s-Verfugung noch zusätzlich vorangetrieben.“

Begonnen hat der Einbau von s-Lauten vermutlich im 16. Jahrhundert. Zwar waren zunächst nur sehr wenige Wörter betroffen, wenn das „-s“ aber einmal eingewandert war, setzte sich diese Variante meist sehr schnell durch. „Religion“ z. B. kommt als neues Wort erst im 16. Jh. ins Deutsche. Während zusammengesetzte Wörter mit „Religion“ bei Luther noch ohne „-s“stehen („Religionsachen“), haben viele schon 50 Jahre später die s-Fuge („Religionssachen“). „Wenn es losgeht, dann geht es ziemlich flott“, so Germanistikprofessorin Damaris Nübling.

Wie die Entwicklung genau verlief, untersucht Kristin Kopf anhand von Textanalysen. Dazu werden 120 Texte à 4.000 Wörter aus dem Frühneuhochdeutschen und dem Neuhochdeutschen computergestützt auf das Vorkommen von Fugenelementen durchforstet. Bei den alten Dokumenten sind es vor allem Sachtexte aus der Medizin und Theologie.

„Kriegsführung“ oder „Kriegführung“? Rund 100 solche Zweifelsfälle existieren nebeneinander

Feste Regeln zu geben, wann eine Verfugung zu erfolgen hat oder welche Variante richtig ist, ist nicht das Ziel der Arbeit. Lebende Sprachen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich ständig verändern. Zweifelsfälle wie „Kriegsführung“ oder „Kriegführung“, von denen es derzeit etwa 100 gibt, können gut über längere Zeit nebeneinander bestehen. „Solche Schwankungen sind uns Sprachwissenschaftlern hochwillkommen, zeigen sie doch, dass hier ein Sprachwandel stattfindet, den wir untersuchen und verstehen wollen“, so Nübling. Hier zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden zu wollen, wäre sinnlos (beide Varianten sind korrekt) und würde den Blick auf den dahinter ablaufenden Sprachwandel verstellen.

Die Arbeit über die Zweifelsfälle der Verfugung ist Teil des interdisziplinären Forschungsprojekts „Determinanten sprachlicher Variation“, das von Prof. Dr. Britta Mondorf (Department of English and Linguistics) und Prof. Dr. Damaris Nübling (Deutsches Institut) initiiert wurde und insgesamt sechs Projekte aus den Disziplinen der englischen und deutschen Sprachwissenschaft, Fremdsprachenerwerbsforschung und Translationswissenschaft umfasst. Projektkoordinator ist Dr. Matthias Eitelmann vom Department of English and Linguistics.

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