Jedes Wort eine Zeitbombe – Zehn Jahre nach dem 11. September

Seit fast 30 Jahren lebt die Zürcherin Maya Hess in New York. Nachdem sie in einer Übersetzungsagentur tätig gewesen war, gründete sie im Jahre 1992 ihr eigenes Unternehmen, das sich auf Terrorismusfälle spezialisierte. Zu ihren Aufgabenbereichen zählten die Analyse des sog. Surveillance-Materials, d.h. die Auswertung abgehörter Gespräche und abgefangener E-Mails oder Internet-Recherchen, sowie die Bearbeitung weiterer Beweismittel. Zu Spitzenzeiten beschäftigte die Gerichtsdolmetscherin bis zu 80 Mitarbeiter.

Mit den Anschlägen vom 11. September haben sich das Leben und die berufliche Ausrichtung von Hess jedoch komplett verändert. Sie musste zusehen, wie einer ihrer ehemaligen Mitarbeiter, Mohamed Yousry, der Beihilfe zum Terrorismus angeklagt und verurteilt wurde – ihre Agentur war für den Fall zuständig. Yousry dolmetschte im Gefängnis Gespräche zwischen der umstrittenen Anwältin Lynne Stewart und ihrem Mandanten Sheik Omar Abdel Rahman. „Rahman gilt als spiritueller Führer einer Organisation in Ägypten, die von den USA als terroristisch eingestuft und für das Attentat in Luxor verantwortlich gemacht wird.“ Weil er an geplanten Attentaten in New York beteiligt war, wurde er 1995 zu lebenslanger Haft verurteilt. „Die Anwältin hat in einem Interview mit einem Journalisten Details aus den Gesprächen zwischen ihr und Rahman bekannt gegeben und so eine Gefängnisregel verletzt – das Redeverbot“, berichtet Hess. 2002, mehr als eineinhalb Jahre nach dem Gespräch, wurden Lynne Stewart und der Dolmetscher verhaftet. „Dabei war [der Dolmetscher] bei diesem Gespräch gar nicht dabei.“

Dieses Urteil habe dramatische Folgen für ihren Berufsstand. „Zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte der USA wurde ein Dolmetscher für die Strategie und Handlungen einer Anwältin und den Inhalt der Mandantengespräche verantwortlich gemacht.“ Nun gebe es einen Präzedenzfall, der diesen Beruf kriminalisiere. Dabei spielten Dolmetscher und Übersetzer eine wichtige Rolle im Krieg gegen den Terrorismus und trügen zur Sicherheit der Welt bei. Welcher Dolmetscher oder Übersetzer will noch Arbeiten übernehmen, die etwas mit Terrorismus zu tun haben? „Viel zu gefährlich“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter von Maya Hess. „Jedes übersetzte Wort könnte eine Zeitbombe sein.“

[Text: Jessica Antosik. Quelle: zol.ch, 09.09.2011; tvprogramm.sf.tv, 14.09.2011.]