Mehrsprachige Erziehung: Sprechen-Lernen wie Laufen-Lernen

Heutzutage ist mehrsprachige Erziehung keine Seltenheit mehr. Laut des deutschen Bildungsberichts „Bildung in Deutschland 2010“ haben bis zu 72 Prozent der Kleinkinder in deutschen Ballungsräumen einen Migrationshintergrund.

Doch worin liegen die Schwierigkeiten in einer mehrsprachigen Erziehung? Ab welchem Alter sollten Kinder mehrsprachig erzogen werden? Wie viele Sprachen können Kinder lernen? Fangen mehrsprachig aufwachsende Kinder erst später an zu sprechen? Muss mehrsprachige Erziehung konsequent ab der Geburt praktiziert werden? Ist mehrsprachige Erziehung nur in binationalen Familien sinnvoll? Diese und weitere Fragen beantwortet Prof. Dr. Janet Grijzenhout (Bild rechts), Professorin für anglistische Sprachwissenschaft und Leiterin des Babysprachlabors an der Universität Konstanz. Sie erforscht u. a. den frühkindlichen Spracherwerb.

Nachfolgend ein Auszug aus einem Interview mit Grijzenhout beim Südkurier.

Funktioniert mehrsprachige Erziehung bei jedem Kind?
Ob mehrsprachige Erziehung funktioniert, hängt eigentlich nicht so sehr vom Kind ab, sondern von seiner Umgebung. Jedes gesunde Menschenkind ist in der Lage, eine oder mehrere Sprache zu erwerben. Bei Menschen funktioniert das Sprechen-Lernen wie das Laufen-Lernen: Bei der Geburt können Babys keine Sprache und sie können nicht laufen. Zuerst muss das Baby seinen Körper stärken und seine Lungen üben, damit es überhaupt auf den Beinen stehen, seine Stimme besser benutzen kann und seinen Mund und seine Zunge so bewegen kann, dass es einen „p“-Laut oder ein „m“-Laut produzieren kann. Was ein Kind sonst noch braucht, um eine oder mehrere Sprachen zu erwerben, ist eine bestimmte kritische Menge von „Sprache-Input“ und die Notwendigkeit, selbst die Sprache anzuwenden. Mit anderen Worten: Für eine gesunde Spracherwerbsumgebung ist es wichtig, dass das Kind genügend „Angebot“ in der beziehungsweise den jeweiligen Sprachen bekommt und das gelingt nur, wenn man mit seinem Kind kommuniziert.

Gibt es bei Geschwister-Paaren Unterschiede?
In vielen Familien funktioniert die zweisprachige Erziehung beim ersten Kind am Anfang ganz gut. Beim zweiten und dritten Kind sollte man sich klar machen, dass das Kind Sprache-Input von seiner gesamten Umgebung bekommt, also auch von seinen Geschwistern. Kinder entwickeln auch unter sich eine bevorzugte Sprache. Damit wird das zweite Kind also wesentlich häufiger mit einer der zwei Sprachen konfrontiert. Das führt oft dazu, dass das zweite Kind den Eindruck bekommt, dass die eine Sprache wichtiger oder gebräuchlicher ist als die andere. Die Motivation, die andere Sprache anzuwenden und zu pflegen, nimmt unter diesen Bedingungen beim zweiten Kind ab. Bei vielen Geschwister-Paaren beobachten wir deshalb, dass das zweite Kind nicht im gleichen Maße zweisprachig aufwächst wie das erste.

Sind bestimmte Sprachen oder Sprachkombinationen einfacher für Kinder zu lernen als andere?
In Prinzip ist es für ein chinesisches Kind genau so einfach, Chinesisch zu lernen wie für ein deutsches Kind Deutsch. Es gibt also aus Sicht des Babys keine einfache oder schwierige Sprache: Jedes Kind erwirbt in etwa den gleichen  Schritten und dem gleichen Tempo seine Muttersprache. Bei mehrsprachigen Kindern gibt es schon Einflüsse von der einen auf die andere Sprache. Professorin Conxita Lleó und ihre Mitarbeiter an der Universität Hamburg haben zum Beispiel herausgefunden, dass Kinder, die gleichzeitig Deutsch und Spanisch erwerben, im Vergleich zu Kindern, die nur Spanisch lernen, einen Vorteil bei Spanisch hatten. Das Deutsche hat relativ viele geschlossene Silben (wie in „Bett“, „Kind“, „Löffel“) und die mehrsprachigen Kinder hatten im Spanischen einen Vorteil dadurch: Im Spanischen haben diese Kinder Wörter mit geschlossenen Silben schneller erworben als gleichaltrige monolinguale Kinder. Es kann aber auch sein, dass es in ganz wenigen Fällen zu einer Verzögerung im Erwerb einer der beiden Sprachen kommt, weil die andere bestimmte Eigenschaften hat, die es für das Kind schwieriger machen, diese Eigenschaft in der anderen Sprache zu unterdrücken.

Das komplette Interview können Sie auf der Website des Südkuriers abrufen.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: bildungsbericht.de; suedkurier.de, 29.09.2011. Bild: uni-konstanz.de.]