Jugendsprache: Aufruf zur Gelassenheit von Nils Bahlo

„Ich hör‘ es gerne, wenn die Jugend plappert: Das Neue klingt. Das Alte klappert.“ Dieses Zitat von Goethe beschreibt ein seit jeher existierendes Phänomen – das der Jugendsprache. Alle Sprachen, auch die Jugendsprachen, sind lebendig und entwickeln sich kontinuierlich weiter. Im Allgemeinen ist das in der Öffentlichkeit geprägte Bild von Jugendsprache eher negativ belastet. Mit der Jugendsprache, die Jugendliche unter Gleichaltrigen benutzen, grenzen sie sich von den Erwachsenen ab, schaffen auf diese Weise ein Zusammengehörigkeitsgefühl und bilden ihre Identität. Heutzutage wird die Jugendsprache vor allem durch die Medien, die Globalisierung und den Immigrationsstrom beeinflusst.

Einige sprechen von einem „Sprachverfall“, andere von einem „Sprachwandel“. Der Sprachwissenschaftler Nils Bahlo (Bild rechts) ruft zu mehr Gelassenheit auf. Er war 2009/10 an der Freien Universität Berlin wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt „Jugendsprache im Längsschnitt“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aus Steuergeldern finanziert wurde. In einem Gespräch mit der Berliner Morgenpost berichtet er über die Jugendsprache. Auf die Frage „Was ist vor allem typisch für die Jugendsprache heute?“ antwortete er:

Es gibt gar nicht die eine Jugendsprache. Schon in Berlin sprechen die Jugendlichen nicht überall gleich. Das hängt von vielen Faktoren ab. Es handelt sich eher um verschiedene jugendsprachliche Stile. Diese Stile unterscheiden sich hinsichtlich der Zeit, der Situation, des soziokulturellen Hintergrunds und der Region. Typisch für die Jugendsprache insgesamt sind emotionale Marker. Das hängt mit der Entwicklung der Jugendlichen während der Pubertät zusammen. Emotionalität und Expressivität spielen in dieser Phase eine wichtige Rolle. Auch der Gebrauch von Platzhaltern wie „dings“ oder „hier“ ist auffällig, um den Gesprächsfluss nicht abbrechen zu lassen. Generell auffällig ist in Großstädten wie Berlin der starke Einfluss aus dem türkisch-arabischen Raum: Zum einen zeigt sich das in bestimmten Ausdrücken wie „Cüs“ oder „Yallah“, zum anderen im Weglassen des Artikels, denn im Türkischen gibt es keine Artikel. Mit sprachlichen Versatzstücken aus unterschiedlichen medialen Kontexten basteln sich Jugendliche ihre eigene Sprache zusammen.

Hinsichtlich des Einflusses der englischen Sprache sagt Nils Bahlo, dass Englisch als Weltsprache tagtäglich Einfluss auf unseren Sprachgebrauch habe. Dennoch sei die Anzahl an Anglizismen in der Jugendsprache nicht signifikant erhöht.

Die nächste Frage der Berliner Morgenpost lautet: „Jedes Jahr werden von manchen Verlagen Sprachführer für Jugendsprache herausgebracht und das Jugendwort des Jahres gekürt. In den vergangenen Jahren wurden Begriffe wie Gammelfleischparty (Ü-30-Party), hartzen (rumhängen) und Niveaulimbo (ständiges Absinken des Niveaus) gekürt. Sind diese Begriffe wirklich authentisch?“ Diese Frage beantwortete Bahlo wie folgt:

Nicht zwangsläufig. Diese Wörterbücher basieren auf den Ideen kreativer Medieninstitute bzw. dem Eintrag auf Webseiten. Dabei muss der kreative Kopf nicht unbedingt jugendlich sein. Stellt man Jugendlichen solche Wortlisten vor, stellt sich schnell heraus, dass vieles erfunden ist. Das liegt natürlich auch daran, dass der Kontext bzw. die situative Einbettung fehlt. Jugendsprache ist nur dann authentisch, wenn sie zwischen Jugendlichen ausgetauscht wird. Hinzu kommt, dass es ja nicht die eine Jugendsprache gibt, sondern viele Spielarten. Was für den einen Jugendlichen gängiges Vokabular ist, ist für den anderen unverständlich und unauthentisch. Ich glaube aber auch nicht, dass es das Ziel der Verlage ist, das Geheimnis der Jugendsprache zu lüften. Sie wollen eher durch die Kreativität amüsieren – und das gelingt ihnen ja recht gut.

Auf die Frage, ob die Jugendsprache eine Modeerscheinung sei, gab Bahlo folgende Antwort:

Sicher, jede Sprachveränderung unterliegt der Mode. Das war schon immer so und lässt sich gar nicht unterbinden, auch wenn viele Kritiker durch neue Einflüsse einen Sprachverfall befürchten. Aber wo soll man da ansetzen, was ist der Maßstab, an dem man sich orientieren soll? Ist es das Deutsch zu Goethes Zeiten? Viele Ausdrücke aus der Jugendsprache gelangen nach einiger Zeit in die allgemeine Umgangssprache. Vor 50 Jahren gehörte das Wort „toll“ zum Beispiel zur Jugendsprache, heute sagt es jeder. Und „ey“ war 1990 noch absolut jugendsprachlich, steht aber inzwischen sogar in der Dudengrammatik. Ebenso ist das Wort „geil“ heute schon umgangstauglich. Vor 30 Jahren hatte es noch eine eindeutig sexuelle Konnotation, heute wird es von dem ursprünglichen Kontext losgelöst im Sinne von „toll“ oder „lustig“ gebraucht und gehört eher zum Sprachgebrauch der 30- bis 40-Jährigen, als der Jugendlichen. Auch das Wort „cool“ spielt bei den Jugendlichen heute kaum noch eine Rolle.

Eine weitere Frage der Berliner Morgenpost lautete wie folgt: „Besteht nicht trotzdem die Gefahr des Sprachverfalls, wenn Jugendliche keine Artikel mehr verwenden?“

Man sollte die sprachlichen Veränderungen nicht überschätzen. Der Wortschatz der Jugendlichen ist nah am Standardwortschatz dran, die Abweichungen, Varianten und neuen Vokabeln machen nicht einmal zehn Prozent aus. Aber in der Tat entsteht dann ein Problem, wenn Jugendliche nicht mehr in der Lage sind umzuschalten, wenn sie ihre Sprache nicht mehr an die jeweilige Situation anpassen können.

Den kompletten Artikel können Sie auf der Website der Berliner Morgenpost lesen, die Projekt-Website finden Sie unter www.jugendsprache-berlin.de.

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[Text: Jessica Antosik. Quelle: morgenpost.de, 23.10.2011. Bild: fu-berlin.de.]

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