Österreich: Migranten verlernen ihre Muttersprache

In der Republik Österreich wachsen derzeit rund 207.000 Kinder mit einer Fremdsprache – meist Türkisch oder Serbisch – auf. 2011 lernten jedoch lediglich 15 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund in ihrer Muttersprache lesen und schreiben.

Experten zufolge besteht das Problem dabei, dass das Beherrschen der Erstsprache in Wort und Schrift die Basis für das Erlernen weiterer Sprachen darstellt. In diesem Fall ist dies insbesondere Deutsch. Sabine Schmölzer-Eibinger vom Germanistik-Institut der Universität Graz sagt: „Ist das Fundament brüchig, ist jeder weitere Spracherwerb gefährdet.“

Nach Angaben des österreichischen Unterrichtsministeriums gibt es seit 1992 Lehrpläne für den muttersprachlichen Unterricht. „Wir decken den Bedarf gut ab“, so das Ministerium. Zu beachten ist hierbei aber, dass der Großteil der betroffenen Kinder keinen Muttersprachenunterricht erhält.

In der bildungspolitischen Debatte nimmt der muttersprachliche Unterricht eine Randposition ein. Dies kritisiert der deutsch-österreichische Germanist Hans-Jürgen Krumm von der Universität Wien. Das Angebot baue nur auf Freiwilligkeit auf. Das bedeute, dass der Muttersprachenunterricht letzten Endes nur dann angeboten werde, wenn Lehrer ihn selbstständig als unverbindliche Übung organisieren. Die deutsche Sprache fördert das Ministerium allerdings mit 47 Millionen Euro und stellt 400 Planstellen zur Verfügung. Krumm fordert, den muttersprachlichen Unterricht als reguläres Fach anzubieten und diesen im Hinblick auf die Wichtigkeit mit anderen Fächern gleichzustellen.

Erstsprachen- und Deutschlehrer sollten enger kooperieren, indem sie beispielsweise parallel dieselben Textsorten im Unterricht thematisieren. Auf diese Weise würden die Kinder zudem lernen, die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen erkennen. Des Weiteren sollten die Schüler in allen Fächern die Möglichkeit haben, bei Gruppenarbeiten die Erstsprache zu verwenden.

Rudolf de Cillia vom Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien macht auf die Defizite aufmerksam, zu denen es komme, wenn ein Kind nicht von klein auf in seiner Erstsprache gebildet werde. Schließlich würden die Lehrer erst in der Oberstufe feststellen, dass die Alltagssprache für das Verständnis des Unterrichts in den verschiedensten Fächern nicht mehr genüge. „Jedes Kind hat das Recht auf die volle Ausbildung seiner Muttersprache.“

Ein weiteres Problem für zweisprachige Kinder in Österreich besteht darin, dass die Mehrsprachigkeit nicht immer positiv angesehen wird. Hans-Jürgen Krumm bezeichnet dieses Phänomen als „Sprachenrassismus“. Bei Englisch und Französisch handle es sich um äußerst prestigeträchtige Sprachen, spreche ein Kind jedoch fließend Serbisch oder Türkisch, werde dies kaum geschätzt. „Es gibt in Österreich eine Elitenmehrsprachigkeit – und Armutsmehrsprachigkeit.“ Dabei sollte eigentlich klar sein, dass alle Sprachen eine wichtige Rolle spielen.

Den Kindern wird dieser „Sprachenrassismus“ auch nicht vorenthalten. In Tirol wurde Schülern zum Beispiel verboten, in der Pause Türkisch zu sprechen. „Das Verbot der Muttersprache ist ein schweres Trauma“, berichtet de Cillia. Ein derartiges Trauma führe zu einer Ablehnung oder gar Verdrängung der Muttersprache vonseiten der Kinder. „Ein Kind, das sich außerhalb der Schule sinnvoll verständigen kann, wird plötzlich ein defizitäres Kind“, erklärt Krumm. Die Forscher stimmen darin überein, dass der muttersprachliche Unterricht einen Beitrag zu „sprachlichem Selbstbewusstsein“ leisten könne. Dieses Selbstbewusstsein würde nicht zuletzt auch die Motivation in anderen Schulfächern erhöhen.

[Text: Jessica Antosik. Quelle: diepresse.com, 24.06.2012. Bild: uepo-Archiv.]