Eine in der deutschen Übersetzungsbranche gerne diskutierte Frage ist die des Muttersprachlerprinzips. Ist es in Ordnung, wenn Übersetzer aus ihrer Muttersprache in eine fremde Sprache übersetzen? Zwar wird die überwiegende Mehrheit der professionellen Übersetzungen durch Muttersprachler getätigt, aber es ist gleichzeitig nicht außergewöhnlich, dass Firmen oder Übersetzungsdienstleister auch in die Nicht-Muttersprache übersetzen lassen. Das geht nicht ohne Risiko, denn wer nicht zweisprachig aufgewachsen ist, wird eine Fremdsprache nie mit derselben Perfektion wie die eigene Muttersprache beherrschen.
Die Ergebnisse von Übersetzungen durch Nicht-Muttersprachler sind recht unterschiedlich. Wer hat nicht schon Formulierungen wie „the system of the quality management is marked with a court-orientated construction“ im Internet gelesen, die kein sehr günstiges Licht auf ein Unternehmen und seine Produkte werfen?
Übersetzt werden sehr unterschiedliche Textarten. Es gibt Werbetexte wie Firmenprospekte, Webseiten oder Zeitungsartikel, bei denen die Beherrschung der Zielsprache in all ihren Nuancen verlangt wird. Ferner findet man allgemeine technische Dokumentationen wie Stücklisten, Bedienungsanleitungen oder Installationshandbücher, die sprachlich relativ nüchtern sind. Und schließlich hat man Fachtexte wie Verträge, Gutachten oder wissenschaftliche Beiträge, die inhaltlich sehr anspruchsvoll sein können. Je nach Texttyp gelten unterschiedliche Anforderungen und Strategien.
Für die gelungene Übersetzung von Werbetexten braucht der Übersetzer eine sehr hohe Sprachkompetenz. Zum einen muss er die Ausgangssprache auf einem sehr hohen Niveau beherrschen und alle Formulierungen, Beispiele mit kulturellem oder geschichtlichem Hintergrund, Wortspiele, Anspielungen usw. verstehen. Gleichzeitig muss er die Zielsprache genauso gut meistern, um die Textintension wiederzugeben, ohne dass der Leser merkt, dass er es mit einer Übersetzung zu tun hat. Und das ist meistens nur bei Übersetzungen in die eigene Muttersprache möglich.
Bei technischen Texten kommt es zuerst einmal darauf an, dass der Übersetzer die technischen Sachverhalte lückenlos versteht. Die deutsche Sprache der Technik zeichnet sich durch viele Komposita wie „Positionssensorauswerteelektronik“ und auch Adjektivkomposita wie „maschinenseitig“ oder „einfachwirkend“ aus. Auch andere Fachsprachen wie die Rechtssprache oder die Sprache der Medizin haben ihre Tücken und eigene Formulierungen. Diese können manchen Übersetzern Schwierigkeiten bereiten und es ist daher wichtig, dass der Fachübersetzer zuerst einmal sehr gute Kenntnisse der deutschen Fachsprache besitzt. Gleiches gilt jedoch für die Zielsprache und angesichts der möglichen Auswirkungen von falsch formulierten oder missverständlichen Anweisungen ist es ratsam, auch hier muttersprachliche Übersetzer einzusetzen.
Schließlich gibt es die Kategorie der Fachtexte, die sehr anspruchsvolle Inhalte beschreiben und nur mit entsprechendem Fachwissen auf hohem Niveau korrekt zu übersetzen sind. Hier ist die Anzahl der für solche Texte qualifizierten Übersetzer relativ bescheiden. Bei manchen Themen und Sprachen sind es sogar nur ganz wenige Übersetzer, die eine fehlerfreie Übersetzung liefern können. In einigen Fachgebieten geht es nicht nur um die Übertragung von Inhalten von einer Sprache in die andere, sondern auch um die Übertragung von Sachverhalten aus einem Fachsystem in das andere System. Ein typisches Beispiel dafür sind die juristischen Übersetzungen. Sie sind ohne gute Kenntnisse beider Rechtssysteme nicht vorstellbar.
Im Vordergrund steht also das richtige Verständnis des Textes und weniger die grammatisch einwandfreie Formulierung in der Fremdsprache. Falsche Entscheidungen, die aufgrund von Verständnisfehlern getroffen werden, wiegen viel mehr und sind viel gefährlicher als unschöne stilistische oder sprachliche Mängel in einer Übersetzung. Das bedeutet jedoch, dass die von einem Nicht-Muttersprachler erstellte Übersetzung zusätzlich durch einen muttersprachlichen Lektor korrigiert werden sollte. Danach erkennt kein Leser mehr, dass ein Nicht-Muttersprachler übersetzt hat.
Eine in der Branche allgemein akzeptierte Beantwortung der Frage nach dem Muttersprachlerprinzip gibt es also nicht. Die neue Qualitätsnorm für Übersetzungen EN ISO 17100:2013-07 schreibt das Muttersprachlerprinzip z. B. nicht vor. Eine Mehrheit wird es – wie übrigens auch die D.O.G. GmbH – empfehlen. Man darf jedoch nicht dogmatisch vorgehen und in berechtigten Einzelfällen Übersetzungen durch Nicht-Muttersprachler zulassen, vor allem wenn dadurch eine inhaltlich fachlich korrekte Übersetzung gewährleistet ist. Wichtig ist auf jeden Fall, dass Übersetzungen anschließend von einem „native speaker“ gegengelesen werden, um Formulierungsfehler zu beseitigen.
Manche Dienstleister oder manche Unternehmen möchten sich diesen Schritt ersparen. Sie übersehen jedoch dabei, dass die Endkunden, die ja die Texte in der eigenen Muttersprache lesen, aus den sprachlichen Mängeln Rückschlüsse auf die Produkte des Unternehmens ziehen. Wie man es nimmt: Das Muttersprachlerprinzip allein ist keine Gewähr für eine gute Übersetzung. Sachverstand gehört auch dazu. Aber auf der anderen Seite ist die sprachliche Korrektheit die Visitenkarte der Übersetzung und sagt somit einiges über die Qualität der Inhalte aus.
[Text: D.O.G. Dokumentation ohne Grenzen GmbH. Quelle: D.O.G. news, 10/2014. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Dr. François Massion. Bild: Photolars / Fotolia.]