Kurz war ich versucht, diesen Artikel mit „UEPO-Herausgeber nur knapp dem Tode entronnen“ zu überschreiben. Aber das wäre dann doch übertrieben gewesen.
Denn ich saß nicht in dem am 1. Mai 2017 entgleisten ICE, nahm aber dieselbe Strecke (Düsseldorf – Dortmund) einige Stunden später und hätte durchaus auch im Unglückszug sitzen können, wenn ich etwas früher aufgebrochen wäre.
Die Entgleisung zweier Waggons bei der Einfahrt in den Dortmunder Hauptbahnhof, bei der zwei Personen verletzt wurden, war dabei eher das kleinere Problem. Die Unfallstelle bot auch kein sonderlich spektakuläres Bild.
Wesentlich gravierender war, dass durch den liegengebliebenen Zug mehrere Gleise blockiert und teils beschädigt waren. Die Folge: Die Hälfte aller Zugverbindungen fiel aus, die andere Hälfte wurde über andere Gleise abgewickelt als sonst. Und bei Verspätungen von 20 bis 70 Minuten hatte der reguläre Fahrplan keinerlei Bedeutung mehr. Kurzum: Chaos pur in einem sonst von Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit geprägten Umfeld.
In der Bahnhofshalle versammelten sich mehrere Hundert ratlos dreinblickende Gestrandete, die in Dortmund ein- oder wie ich umsteigen wollten und nun nicht mehr weiterkamen.
Wer kein Deutsch verstand, war verloren
Für mich als Sprachmittler war interessant, das Informations- und Kommunikationschaos zu beobachten. Die verschiedenen Fahrgastgruppen kamen damit unterschiedlich gut zurecht – oder überhaupt nicht:
(1) Die Sonntagsfahrer, die das verlängerte Wochenende zu Verwandtschaftsbesuchen genutzt hatten, wirkten wie immer überfordert. Sie reihten sich in die endlose Schlange vorm Informationsschalter ein.
(2) Erfahrene Bahnreisende und Pendler versuchten, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Sie studierten die elektronische Anzeigetafel und eruierten per Bahn-App Möglichkeiten der Weiterreise.
(3) Vollkommen hilf- und orientierungslos waren jedoch alle, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Das betraf ausländische Geschäftsreisende und die nicht Deutsch sprechenden Einheimischen ebenso wie die inzwischen an allen Bahnhöfen zum Alltagsbild gehörenden und rege mit Rucksack durch die Republik reisenden arabischen jungen Männer.
Sie konnten die Anzeigetafel nicht lesen und verstanden die Lautsprecherdurchsagen nicht. Die meisten hatten nicht einmal begriffen, was überhaupt passiert war.
Man konnte ihnen auch mit Erläuterungen auf Englisch oder Französisch nicht weiterhelfen. Hinweise wie „Der Zugverkehr nach Bochum ist unterbrochen. Fahren Sie stattdessen nach Herne und nehmen Sie dort die Straßenbahn nach Bochum“ nützen nur Ortskundigen etwas, die wissen, dass Herne im Grunde ein nördlicher Vorort von Bochum ist.
Ein Asiat rief in die abfahrbereite Regionalbahn nach Hamm fragend „Cologne“? Ein mehrstimmiges „No“ verhinderte zumindest, dass er sich noch weiter von seinem Zielort entfernte.
Irritierend bis verstörend wirkte auf all diese Orts- und Sprachunkundigen wohl auch die massive Polizeipräsenz. Die Beamten hatten noch ihre Mai-Demo-Kampfmontur an und versperrten die Aufgänge zu den acht ausgefallenen Gleisen.
Keine Dolmetscher vor Ort, keine Lautsprecherdurchsagen auf Englisch
Dass keine Dolmetscher bereitstanden und (zumindest in der Stunde, in der ich mich dort aufhielt) nicht einmal Lautsprecherdurchsagen in englischer Sprache erfolgten, kann man der Bahn nicht unbedingt zum Vorwurf machen.
Dortmund ist mit täglich 190.000 Bahnreisenden zwar ein Verkehrsknotenpunkt, aber keine Touristenmetropole. Außerdem war Feiertag. Und so fand die in dieser Situation dringend benötigte multilinguale Krisenkommunikation einfach nicht statt.
Die hilfsbereiten Mitarbeiter am Informationsschalter werden einzelnen Reisenden sicherlich auch auf Englisch weitergeholfen haben, aber das war dann nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Was hätte man besser machen können? Eine alle 15 Minuten wiederholte Durchsage auf Deutsch, Englisch und Französisch mit einer Kurzbeschreibung der desolaten Gesamtsituation (Zug entgleist, Gleise blockiert, Fahrten nach Westen und Südwesten praktisch nicht mehr möglich) hätte die verschreckt wirkenden Ausländer sicherlich etwas beruhigen können.
Taxifahrer im Glück
Auch ich gehörte vorübergehend zu den Gestrandeten, denn das Gleis, auf dem ich meinen Anschlusszug nach Soest hätte besteigen sollen, gehörte zu den gesperrten.
Immerhin gelang es mir, einen verspäteten Zug nach Hamm zu erwischen, auf diese Weise die Sperrung zu umfahren und so meinem Ziel schon etwas näherzukommen. In Hamm war der letzte Zug des Tages nach Soest jedoch bereits abgefahren. Und so blieb mir nichts anderes übrig als die letzten 30 Kilometer per Taxi zu bewältigen.
Der Taxifahrer hatte diese Strecke an dem Abend bereits viermal gemacht und wusste von einem Geschäftsreisenden zu erzählen, der sich kurzerhand per Taxi nach Hamburg habe fahren lassen (320 km).
Richard Schneider