Entwurf Versichertenentlastungsgesetz: „Zu kurz geraten“ – BAGSV fordert Nachbesserungen

BAGSV-Aktivisten
Vertreter aus 24 Verbänden engagieren sich in der BAGSV, darunter auch Ralf Lemster vom BDÜ (3. v. l.), Daniel Plogmann von Dr. Koch Consulting (im Auftrag des BDÜ, stehend, 3. v. l.) und Beate Maier von der ATICOM (ganz rechts). - Bild: Jan-Peter Wahlmann

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände (BAGSV), zu der auch BDÜ und ATICOM gehören, hat eine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Beitragsentlastung der Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versichertenentlastungsgesetz / GKV-VEG) in der Fassung vom 24.09.2018 verfasst, die wir nachfolgend wiedergeben:

Wir nehmen in dieser gemeinsamen Stellungnahme von 16 Berufs- und Selbstständigenverbänden zunächst generell zum Gesetzesentwurf Stellung, insoweit er die Verbeitragung von Selbstständigen in der gesetzlichen Kraken- und Pflegeversicherung betrifft. Anschließend machen wir zwei pragmatische Vorschläge, die unseres Erachtens unbedingt noch im laufenden Gesetzesvorhaben adressiert werden sollten.

Bewertung des Gesetzesentwurfes und weiterer Änderungsbedarf

Die Senkung der Mindestbemessungsgröße für Selbstständige auf 1.142 Euro ist ein Schritt in die richtige Richtung, hin zu einer einkommensabhängigen Beitragsbemessung, den wir ausdrücklich begrüßen. Er ist aber zu kurz geraten.

Das kann man am besten am Beispiel von Teilzeit-Selbstständigem mit niedrigerem Einkommen verdeutlichen: Sie müssen bei Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze von 435 Euro/Monat auch weiterhin bis zu 41 % nur für die Kranken- und Pflegeversicherung bezahlen, mit Rentenversicherung sind das rund 60 % ihres Einkommens. Das führt dazu, dass sie an Krankentagegeld, Arbeitslosenversicherung und wo es möglich ist an der Altersvorsorgepflicht und damit an ihrer anderweitigen sozialen Sicherung sparen müssen.

Vier von fünf Betroffenen sind Frauen, meist in der Familienphase, denen eine qualifizierte Erwerbstätigkeit häufig nur im Rahmen einer nebenberuflichen Selbstständigkeit möglich ist. Sie sind aufgrund der überproportionalen Beiträge faktisch gezwungen, mit ihrem Verdienst unter 435 Euro zu bleiben. Dabei würden 80 % von ihnen gerne mehr arbeiten. Diese Möglichkeit wird ihnen trotz Fachkräftemangel verwehrt.

Das ist ein schlechtes Geschäft auch für Staat und Sozialversicherung: Bei durchgängig einkommensabhängiger Verbeitragung würden allein Kranken- und Pflegeversicherung 820 Mio. Euro mehr Beiträge einnehmen, Rentenversicherung und Fiskus nicht mitgerechnet (IfG-Studie 2017).

Die Lösung sehen wir nicht – wie von einigen Seiten gefordert – in einer Ausweitung des Prinzips der Künstlersozialkasse auf alle Selbstständigen. Vielmehr sind wir bereit, so viel Beiträge zu bezahlen wie Arbeitgeber UND Arbeitnehmer zusammen. Momentan zahlen wir aber deutlich mehr.

Unsere Forderungen zielen darauf, gemessen an diesem Maßstab faire und wettbewerbsgerechte Beiträge für Selbstständige zu schaffen:

  1. Die Mindestbemessungsgröße muss auf 450 Euro vereinheitlicht und die Beiträge somit einkommensgerecht gestaltet werden, damit sie auch für Teilzeit-Selbstständige erschwinglich sind und Einstiegshürden sowie das Aufhäufen von Beitragsschulden vermieden werden.
  2. Die bei Angestellten beitragsfreien Mieteinnahmen, Zinsen und Dividenden müssen auch bei Selbstständigen beitragsfrei bleiben.
  3. Das gilt auch für den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung. Er ist bei Angestellten beitragsfrei, bei Selbstständigen nicht. Das führt zu Sozialversicherungsbeiträgen, die auch bei Selbstständigen mit mittlerem Einkommen (bis ca. 5.000 Euro/Monat) systematisch 20% höher sind als die von Angestellten UND Arbeitgebern zusammen.
  4. Im Koalitionsvertrag hat man einen weiteren Ausbau der Gleitzonenregelung zwischen 450 und 1.300 Euro vereinbart, um den Einstieg in Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu vereinfachen. Es ist nötig, diese Logik endlich auch auf Selbstständige zu übertragen, statt bei ihnen sehr viel höhere Einstiegshürden beizubehalten.
  5. Die zum 1.1.18 eingeführte vorläufige Bemessung von Beiträgen sehen wir ebenfalls kritisch. Sie führt in Verbindung mit den hohen Mindestbeiträgen zu unkalkulierbaren Beitragssprüngen und wird viele Selbstständige in die Insolvenz treiben. Sie sollte zurückgenommen oder in ein Wahlrecht umgewandelt werden.

Für äußerst fragwürdig halten wir die Begründung des Gesetzes, die betroffenen Selbstständigen würden über größere Gestaltungsmöglichkeiten als Angestellte bei den Betriebsausgaben verfügen und die Mindestbemessungsgrenzen dienten der Beitragsgerechtigkeit. Die betroffenen Selbstständigen mit weniger als 1.142 Euro Gewinn verfügen in aller Regel gar nicht über den finanziellen Spielraum für Gestaltungen und haben meist auch keinen Steuerberater.

Auch das immer wieder zu hörende Argument, nachhaltig wirtschaftende „hauptberuflich Selbstständige“ müssten mindestens ca. 1.530 Euro pro Monat verdienen (was bei 40 Wochenstunden dem Mindestlohn von 8,83 Euro/Stunde entspricht) wird den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht: Der Begriff des „hauptberuflich Selbstständigen“ ist irreführend, denn die große Mehrzahl der von der Sozialversicherung so kategorisierten Selbstständigen sind Teilzeit-Selbstständige, die z.B. aufgrund von Familienarbeit oder Pflege deutlich unter 40 Stunden/Woche arbeiten. Pragmatische Vorschläge zum Gesetzesentwurf unter Berücksichtigung der Vorgaben durch den Koalitionsvertrag:

1. Da die finanzielle Leistungsfähigkeit auch bei Selbstständigen vom Einkommen und nicht von einer relativ willkürlichen Einordnung als „hauptberuflich“ und „nebenberuflich“ abhängt und die entsprechenden Mindestbemessungsgrenzen sich zudem nach der geplanten Änderung nur noch geringfügig unterscheiden (1.142 vs. 1.015 Euro, was ca. 23 Euro Beitragsunterschied entspricht) sollte diese Unterscheidung aufgehoben und die Beitragsbemessungsgrenze im Rahmen des laufenden Gesetzesvorhabens bei 1.015 Euro (30/90 der Bezugsgröße) vereinheitlicht werden.

Das erspart den Krankenkassen die aufwändige Überprüfung, ob eine „haupt-“ oder „nebenberufliche“ Selbstständigkeit vorliegt. Außerdem könnte so der Missstand beseitigt werden, dass für im Sinne der Sozialversicherung „nebenberuflich“ Selbstständige trotz ihrer überproportionalen Beiträge bisher im Fall einer Schwangerschaft oder längeren Krankheit kein Anspruch auf Mutterschaftsgeld bzw. Krankengeld besteht.

2. Ein unseres Erachtens besonders empörender Missstand, der in diesem Zusammenhang unbedingt kurzfristig gelöst werden sollte ist, dass „hauptberuflich“ Selbstständige, die unterhalb der Mindestbemessungsgröße verdienen und bei längerer Krankheit dann Krankengeld auf Basis des niedrigeren tatsächlichen Verdienstes erhalten, auch während der Krankheit weiterhin Beiträge auf die – ja gar nie verdiente – Differenz zwischen Mindestbemessungsgröße und tatsächlichem Verdienst abgezogen bekommen.

Fazit und Ausblick

Die auch nach diesen Schritten weiterhin bestehende erhebliche Mehrbelastung der Selbstständigen bei der Kranken- und Pflegeversicherung (gegenüber der Summe aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen) geht zulasten der Altersvorsorge von Selbstständigen mit bis zu ca. 5.000 Euro Monatseinkommen.

Die für Jahresanfang 2020/21 geplante Einführung einer Altersvorsorgepflicht kann aber nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn man Selbstständigen mit kleinem und mittlerem Einkommen einkommensgerechte Krankenversicherungsbeiträge ermöglicht. Ansonsten kommt es bei diesen aufgrund der überhöhten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zu einer finanziellen Belastung mit Abgaben und Steuern von teilweise deutlich über 60 Prozent. Dies widerspricht den Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft und hätte auch negative volkswirtschaftliche und fiskalische Konsequenzen, weil ein erheblicher Teil der heute Selbstständigen ihre bestehende Erwerbstätigkeit nach Einführung der Altersvorsorgepflicht beenden müsste.

Deshalb ist der vorliegende Referentenentwurf ein erster, aber unzureichender Schritt, dem noch in dieser Legislaturperiode dringend weitere folgen müssen.

München, den 28.09.2018

Die folgenden in der BAGSV aktiven Verbände tragen diese Stellungnahme ausdrücklich mit:

  • Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland e.V. (VGSD)
  • Allianz deutscher Designer e.V. (AGD)
  • Arbeitgebervereinigung für Unternehmen aus dem Bereich EDV und Kommunikationstechnologie e.V. (AGEV)
  • Bundesverband der Bilanzbuchhalter und Controller e.V. (BVBC)
  • Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer e.V. (BDÜ)
  • Bundesverband der freien Musikschulen (bdfm)
  • Bundesverband der Honorarärzte e.V. (BV-H)
  • Bundesverband deutscher Stuntleute e.V. (BvS)
  • Bundesverband Filmschnitt Editor e.V.
  • Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH)
  • Deutscher Crowdsourcing Verband e.V. (DCV)
  • Fachverband der Berufsübersetzer und Berufsdolmetscher e.V. (ATICOM)
  • Interessengemeinschaft der selbständigen DienstleisterInnen in der Veranstaltungswirtschaft e.V. (ISDV)
  • IT-Projektgenossenschaft eG
  • Verband der freien Lektorinnen und Lektoren e.V. (VFLL)
  • Verband Deutscher Tonmeister e.V. (vdt)

BAGSV-Logo

Über die BAGSV

Mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände (BAGSV) ist im Februar 2017 ein Bündnis entstanden, das sich gemeinsam für die (Solo-)Selbstständigen in Deutschland stark macht. Sie ist kompetenter Ansprechpartner für die Politik und beansprucht einen Platz am Tisch neben Gewerkschaften und Arbeitgebern, wenn es um die Interessen der Selbstständigen geht.

Ziele sind mehr Rechtssicherheit, faire Sozialversicherungsbeiträge sowie der Abbau von Bürokratie und Zwangsabgaben. Die BAGSV will zudem zu einer differenzierten und faktenbasierten Wahrnehmung von Selbstständigkeit beitragen.

Die ca. 25 mitarbeitenden Organisationen haben rund 100.000 Mitglieder, darunter einen hohen Anteil von Solo-Selbstständigen. Zusammen mit ihren Partnern können sie sogar mehrere hunderttausend Betroffene erreichen und damit einen erheblichen Teil der 2,3 Millionen Soloselbstständgien in Deutschland mobilisieren. Die Verbände arbeiten unabhängig von der jeweiligen Mitgliederzahl auf Augenhöhe zusammen und sind alle in Berlin zu Fragen der Sozialpolitik in besonderem Maße aktiv.

Sie bilden ein schlagkräftiges Netzwerk, bei dem ein oder mehrere Verbände ein Thema vorantreiben (z.B. durch Positionspapiere, Befragungen, Studien, Veranstaltungen, Petitionen etc.) und von den anderen dabei solidarisch unterstützt werden.

Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft sind Dr. Andreas Lutz (VGSD) und Victoria Ringleb (AGD).

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Weiterführender Link

[Text: BAGSV. Quelle: Pressemitteilung BAGSV, 2018-09-28.]