Premiere auf Instagram-TV: Frank Heibert liest live aus neuer Queneau-Übersetzung

Eher zufällig bin ich gestern Abend auf die Direktübertragung einer Übersetzerlesung aufmerksam geworden, nachdem mir auf Twitter die entsprechende Einladung des Suhrkamp Verlags ins Auge sprang.

Frank Heibert (rechts) in seinem Element. Hinrich Schmidt-Henkel stand ihm als Sidekick zur Seite. Rechts oben wird angezeigt, dass sich 3 Zuschauer eingeklinkt haben. Unten sind die Interaktionsmöglichkeiten aufgezeigt.

Im Friedrichshain-Kreuzberg-Museum in Berlin las ab 20:00 Uhr der aus Feuilleton, Funk und Fernsehen bekannte Literaturübersetzer Frank Heibert aus seiner Neuübersetzung von Zazie in der Metro des französischen Autors Raymond Queneau.

Ihm zur Seite stand der nicht minder bekannte Berufskollege Hinrich Schmidt-Henkel, der als Gehilfe und Moderator fungierte. (Schmidt-Henkel war lange Jahre Vorsitzender des Literaturübersetzerverbandes VdÜ.)

Mit verteilten Rollen lasen beide Abschnitte aus der Roman-Übersetzung vor. Dabei wurden an ausgewählten Beispielen auch die besonderen Schwierigkeiten der Queneau-Übersetzung diskutiert.

Das Publikum vor Ort dürfte, legt man die Geräuschkulisse zugrunde, aus rund 30 Zuschauern bestanden haben. Die Leiterin der organisierenden Buchhandlung begrüßte zunächst die Anwesenden und übergab das Mikro dann an die beiden Akteure. Anschließend konnte man eine klassische Übersetzerlesung eines eingespielten Duos in akzeptabler Bild- und Tonqualität verfolgen.

Warum ist das von Bedeutung?

Nach einer Stunde wurde die Übertragung abrupt beendet, denn IGTV-Beiträge dürfen maximal 60 Minuten lang sein.

Jede Woche finden irgendwo Übersetzerlesungen statt. Warum ist diese von Bedeutung? Weil hier mit bescheidensten Mitteln eine Direktübertragung organisiert wurde, die inhaltlich dasselbe leistet wie der Übertragungswagen eines Fernsehsenders.

Genau genommen bietet die Übertragung per Smartphone sogar mehr, weil ein Rückkanal vorhanden ist, über den Fragen gestellt werden können.

Über die Chat-Funktion der Instagram-TV-App können sich Zuschauer in die Diskussion einbringen. Auch gestern wurde diese Möglichkeit einmal genutzt. Ein offenbar Ahnungsloser fragte in die Runde: „Wer ist der Herr und was wird besprochen?“ Suhrkamp antwortete: „Übersetzer Frank Heibert spricht über ‚Zazie in der Metro‘.“

Zuschauerzahlen blieben überschaubar

In diesem Fall blieben die Zuschauerzahlen wegen der sehr kurzfristigen Ankündigung und der offenbar experimentellen Natur der Übertragung wie zu erwarten überschaubar: Es waren nie mehr als acht Instagram-Gäste gleichzeitig zugeschaltet.

Aber: Würde man eine solche Aktion langfristig planen und ankündigen, sähe die Situation anders aus. Denn die Teilnehmerzahl ist nicht begrenzt und könnte ohne negative Auswirkungen auf die Übertragung ohne Weiteres mehrere Tausend betragen.

Livestreaming mit Periscope und IGTV

Die zurzeit bekanntesten Systeme für die Direktübertragung von Bewegtbildern und Ton sind:

  • Periscope: Die seit 2015 zu Twitter gehörende App ermöglicht eine Übertragung im Hoch- und Querformat. Die Sendezeit ist nicht begrenzt. Follower werden automatisch über eine beginnende Direktübertragung informiert.
  • Instagram TV (IGTV): Erst im Juni 2018 wurde Instagram TV eingeführt. Direktübertragungen und Videos können lediglich im Hochformat durchgeführt bzw. hochgeladen werden. Die Laufzeit ist auf eine Stunde begrenzt. Auch hier werden Follower automatisch informiert.

Insgesamt betrachtet ist Periscope wegen umfangreicherer Funktionen, der etwas längeren Marktpräsenz und der direkten Anbindung an Twitter zurzeit die bessere Wahl und wird von Nachrichtenagenturen bevorzugt.

IGTV leistet im Prinzip dasselbe, wendet sich aber eher an die bunte Glitzerwelt der Instagram-Selbstdarsteller (Musik, Mode, Schminktipps usw.). Der Dienst wirkt wie eine Erweiterung der schon länger bekannten und sehr beliebten Instagram-Stories (kurze, oft mit Effekten versehene Video-Schnipsel).

Ungeahnte Möglichkeiten für Berufsverbände und kleine Branchen

So sieht die Aufzeichnung der Veranstaltung aus, die auf dem Instagram-Profil von Suhrkamp abgerufen werden kann. Rechts im Bild ist die organisierende Buchhändlerin bei der Begrüßung von Zuschauern und Vortragenden zu sehen.

Die Übersetzungsbranche ist mit rund 40.000 Angehörigen viel zu klein, um jemals eine eigene Sendung im Fernsehen oder gar einen eigenen TV-Kanal gestalten zu können. Sie muss sich deshalb ihre eigenen Medien schaffen.

Seit annähernd 100 Jahren geben die Verbände Branchenzeitschriften heraus, seit einigen Jahren werden Video- und Audiobeiträge (Podcasts) produziert und auf Plattformen wie YouTube bereitgestellt. Das Online-Magazin UEPO.de besteht bereits seit 18 Jahren. Und dennoch werden viele Möglichkeiten, die vor allem die Sozialen Medien bieten, noch gar nicht oder nur vereinzelt genutzt.

Erst seit wenigen Jahren kann man mit Smartphone-Apps wie Periscope und IGTV ohne großen Aufwand und praktisch zum Nulltarif fernsehartige Direktübertragungen auf die Beine stellen. Denkbar sind:

  • Live-Interviews mit Branchenpersönlichkeiten, bei denen Zuschauer Fragen stellen können
  • Übersetzerlesungen und Podiumsdiskussionen auch ohne Präsenzveranstaltung
  • Übertragung der Eröffnungsreden von Großveranstaltungen (als Appetithäppchen)
  • Frage- und Sprechstunden für Verbandsmitglieder
  • Teilnahme an Mitgliederversammlungen aus der Ferne

Einige kleinere Verbände führen bereits Online-Sprechstunden für Mitglieder und Konferenzschaltungen für Mandatsträger durch. Der Siegeszug der Webinare ist ebenfalls auf die neuen technischen Möglichkeiten zurückzuführen.

Präsenzveranstaltungen werden bislang jedoch nur selten zusätzlich auch im Netz übertragen. Ein vollständiges (allerdings kostenpflichtiges) Streaming einer Großveranstaltungen für Übersetzer wurde nach unserem Wissen erst ein einziges Mal konsequent angeboten: von der BP-Konferenz, die 2019 in Bologna stattfand.

Ortsunabhängig und ohne zusätzliche Hard- und Software

Theoretisch brauchen Sender und Empfänger für eine solche Übertragung keinerlei zusätzliche Hard- und Software, sondern lediglich ihre Smartphones.

In der Praxis lohnt es sich für den Sender aber, etwas mehr Aufwand zu betreiben. Ein Stativ, eine zusätzliche Beleuchtung sowie eine bessere Kamera und ein empfindlicheres oder stärker gerichtetes Mikrofon sind durchaus sinnvoll.

Auf der Zuschauerseite empfiehlt sich wegen der oft nicht optimalen Tonqualität der Einsatz von Ohrhörern oder eines externen Lautsprechers, der per Bluetooth oder Kabel an das Smartphone gekoppelt ist.

Ankündigungs-Tweet von Suhrkamp
Mit diesem Tweet wies Suhrkamp auf die Übertragung der Veranstaltung hin. Allerdings sehr kurzfristig, nämlich erst eine Viertelstunde vor Beginn.

Frank Heiberts Neuübersetzung von „Zazie in der Metro“

Der 1959 erschienene Roman Zazie dans le métro ist bis heute der größte Publikumserfolg von Raymond Queneau. Bereits 1960 erschien eine deutsche Übersetzung von Eugen Helmlé bei Suhrkamp, die jedoch sprachlich-stilistisch gegenüber dem Original deutlich abfällt.

Zur im Mai 2019 erschienenen Neuübersetzung von Frank Heibert schreibt der Verlag:

Madame Grossestittes will ungestörte Stunden mit ihrem Liebhaber verbringen. Deshalb übergibt sie ihre Tochter Zazie gleich bei der Ankunft an der Gare d’Austerlitz ihrem Bruder Gabriel, der in einem Cabaret arbeitet. Bei ihrem Onkel lernt die freche Zazie Gabriels Frau Marceline kennen, den Taxifahrer Charles, Turandot, dem die Kneipe unten im Haus gehört, die Kellnerin Mado, den Papagei Laverdure und vor allem das überbordende Paris selbst. Zazie hat einen einzigen Herzenswunsch – sie will einmal im Leben mit der Metro fahren. Doch die wird ausgerechnet an diesem Wochenende bestreikt.

Dachten wir bisher! Aber nach sechzig Jahren kommt Zazie in dieser erweiterten Ausgabe des Romans erstmals wirklich in die Metro …

Zazie in der Metro ist einer der beliebtesten französischen Romane des 20. Jahrhunderts – eine wilde, verspielt und deftig erzählte Geschichte über Paris, über die Sprachen des Alltags und über die abenteuerlustige, neunmalkluge Zazie, die so ziemlich ALLES auf den Kopf stellt.

Mit seiner funkensprühenden Neuübersetzung gelingt Frank Heibert das Kunststück, die vielschichtigen Anspielungen und Sprachprovokationen Queneaus zu übertragen und zugleich den Figuren ihre freche, direkte Stimme zu geben.

Weiterführende Links

Richard Schneider