Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.
(Eckermann: Gespräche mit Goethe, 31. Januar 1827)
Wenn der Anbruch des Zeitalters der Weltliteratur auch noch auf sich warten ließ – was die deutschen Buchhändler und Übersetzer betrifft, so folgten sie Goethes Aufruf zur „Beschleunigung“ dieser Epoche nur allzu eifrig. Neben französischen Romanen und Theaterstücken waren zum Zeitpunkt von Goethes Diktum v. a. die Romane Walter Scotts Gegenstand hektischer Übersetzungstätigkeit.
Ebenfalls im Jahre 1827 ließ Wilhelm Hauff in seinen satirischen Bildern Die Bücher und die Lesewelt seiner Phantasie in Bezug auf die Herstellung von Übersetzungen freien Lauf. Hauff richtet seine Satire gegen den in Zwickau ansässigen Verlag der Gebrüder Schumann, die sich maßgeblich an dem Geschäft mit den Übersetzungen der Romane Scotts beteiligten.
In Scheerau hat man jetzt eine eigene Übersetzungsfabrik angelegt, wo täglich fünfzehn Bogen übersetzt und sogleich gedruckt werden. […]
Hinten im Hof ist die Papiermühle, welche unendliches Papier macht, das, schon getrocknet, wie ein Lavastrom in das Erdgeschoß des Hauptgebäudes hinüberrollt; dort wird es durch einen Mechanismus in Bogen zerschnitten und in die Druckerei bis unter die Pressen geschoben. Fünfzehn Pressen sind im Gang, wovon jede täglich zwanzigtausend Abdrücke macht. Nebenan ist der Trockenplatz und die Buchbinderwerkstätte. Man hat berechnet, daß der Papierbrei, welcher morgens fünf Uhr noch flüssig ist, den andern Morgen um elf Uhr, also innerhalb dreißig Stunden, ein elegantes Büchlein wird.
Im ersten Stock ist die Übersetzungsanstalt. Man kommt zuerst in zwei Säle; in jedem derselben arbeiten fünfzehn Menschen. Jedem wird morgens acht Uhr ein halber Bogen von Walter Scott vorgelegt, welchen er bis Mittag drei Uhr übersetzt haben muß. Das nennt man dort ‚aus dem Groben arbeiten‘. Fünfzehn Bogen werden auf diese Art jeden Morgen übersetzt. Um drei Uhr bekommen diese Leute ein gutes Mittagsbrot. Um vier Uhr wird jedem wieder ein halber Bogen gedruckte Übersetzung vorgelegt, die durchgesehen und korrigiert werden muß. […]
An die zwei Säle stoßen vier kleine Zimmer. In jedem sitzt ein Stilist und sein Sekretär; Stilisten nennt man dort nämlich diejenigen, welche die Übersetzungen der dreißig durchgehen und aus dem Groben ins Feine arbeiten; sie haben das Amt, den Stil zu verbessern. Ein solcher Stilist verdient täglich zwei Taler, muß aber seinen Sekretär davon bezahlen. Je sieben bis acht Grobarbeiter sind einem Stilisten zugeteilt; sobald sie eine Seite geschrieben haben, wird sie dem Stilisten geschickt. Er hat das englische Exemplar in der Hand, läßt sich vom Sekretär das Übersetzte vorlesen und verbessert hier oder dort die Perioden. In einem fünften Zimmer sind zwei poetische Arbeiter, welche die Mottos über den Kapiteln und die im Texte vorkommenden Gedichte in deutsche Verse übersetzen.
(Quelle: Wilhelm Hauff: Werke. Hg. v. Hermann Engelhard. Bd. 2. Stuttgart 1962, S. 734f. Zuerst erschienen im Morgenblatt für gebildete Stände 1827, Nr. 85-92.)
Auch viele andere zeitgenössische Kritiker fassten ihre Klagen über den hektischen Übersetzungsbetrieb und die daraus resultierenden Mängel der Übertragungen in dem Schlagwort von der Übersetzungsfabrik zusammen. Zahlreiche Rezensenten äußerten ihren Abscheu gegen die Fließband- und Dampfmaschinenübersetzungen, einige Zeitschriftenbeiträge widmeten sich ausschließlich diesem Thema.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, was hinter der Klage über die Übersetzungsfabriken steckt, was an den Ausfällen gegen das Übersetzungswesen verifiziert werden kann und unter welchen Bedingungen Übersetzungen im behandelten Zeitraum hergestellt wurden.
Er plädiert damit auch für eine stärkere Berücksichtigung der institutionsgeschichtlichen Voraussetzungen innerhalb der Übersetzungsforschung, die häufig so vorgeht, als ob das Übersetzen eine ausschließlich von Übersetzungstheorien geleitete Betätigung wäre.
Die buchhandelsgeschichtlichen Aspekte, insbesondere die Situation des Übersetzerstandes und die allgemeine Einstellung zum Übersetzen, die rechtlichen Rahmenbedingungen usw., sind für die Erklärung der Gestalt einer Übersetzung mitunter ebenso wichtig wie die linguistische Analyse. […]
* * *
Wie oben dargestellt leitet Univ.-Prof. Dr. Norbert Bachleitner 1989 einen viel beachteten 50-seitigen Aufsatz ein. Fünfundzwanzig Seiten davon entfallen auf einen ausführlichen Anhang mit Erläuterungen und Quellenhinweisen. Eine überaus interessante und spannende Lektüre über ein Kapitel der Übersetzungsgeschichte, das vielen noch unbekannt sein dürfte.
Bachleitners Forschungsergebnisse zeigen, dass die hektische Übersetzung von Bestsellern durch ein Kollektiv aus mehreren Übersetzern – wie zuletzt bei der Autobiografie Becoming von Michelle Obama – keine Erscheinung des 21. Jahrhunderts ist. Um 1830 herum wurde bereits auf dieselbe Weise gearbeitet.
Schon damals galten die deutschen Länder als Übersetzungsweltmeister. Und möglicherweise hat die bis heute traditionell schlechte Bezahlung der Literaturübersetzer durch die Verlage ihre Ursachen in dieser anarchischen Zeit der Literaturübersetzung vor 200 Jahren.
Das Übersetzen unterlag damals lange Zeit keinerlei rechtlichen Beschränkungen. Die ausländischen Schriftsteller und Verlage erhielten keine Lizenzgebühren. Die Werke der französischen Schriftstellerin George Sand wurden parallel von mehr als 50 Verlagen in Deutschland angeboten. Das Übersetzen erfolgreicher Romane aus dem Ausland war für deutsche Verlage preisgünstiger als die Honorarforderungen inländischer Schriftsteller.
Übersetzer erhielten typischerweise 2 bis 3 Taler pro Druckbogen (16 Seiten), Autoren hingegen 4 Taler. Zudem warfen die Übersetzungsfabriken in Stuttgart, Leipzig, Wien, Quedlinburg, Dresden, Aachen, Braunschweig und Frankfurt am Main ihre Erzeugnisse zu Kampfpreisen auf den Markt, um sich gegenseitig zu unterbieten. Eine Buchpreisbindung gab es nicht.
Vom Feuilleton wurden diese Zustände scharf kritisiert. Die Blätter für literarische Unterhaltung monierten 1823:
Welchen schändlichen Missbrauch treiben der deutsche Buchhandel und die deutsche Uebersetzerinnung mit den trefflichen Romanen! — Kaum ist einer da, so stehn ein, zwei, drei, vier Buchhändler mit honorirenden Hetzpeitschen und goldenen Stacheln hinter ihren allzeit fertigen Uebersetzern, und wer der schnellste ist, der wird am besten bezahlt, also der gewissenhafteste am schlechtesten. Geht es mit dem Englischen nicht rasch genug, und es gibt eine französische Uebersetzung des Originals, so nehmen sie diese zu Hülfe […].
Den vollständigen Text von Bachleitners Aufsatz finden Sie in der folgenden PDF-Datei, die auf den Seiten der Universität Wien bereitgehalten wird:
- Norbert Bachleitner (1989): Übersetzungsfabriken. Das deutsche Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, Nr. 14/1, S. 7. (50 Seiten, davon 25 Seiten Anhang.)
Der Literaturübersetzerverband VdÜ hat sich 2002 in seiner Mitgliederzeitschrift Übersetzen ebenfalls mit den ominösen Übersetzungsfabriken beschäftigt:
- Tobias Scheffel: Von „Patent-Uebersetzern“ und „honorirenden Hetzpeitschen“. Das Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Übersetzen 4/2002, Seite 1-5. (Auf der Website der Zeitschrift Übersetzen oben rechts „Heft als PDF“ anklicken.)
Über den Autor
Univ.-Prof. Dr. Norbert Bachleitner (Jahrgang 1954) hält seit 2011 eine Professur für vergleichende Literaturwissenschaft an der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Rezeptionsgeschichte englischer und französischer Literatur im deutschsprachigen Raum, der Übersetzungsforschung, der Sozialgeschichte der Literaturen und Buchgeschichte sowie der digitalen Literatur.
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