Schriftsteller Claudio Magris: „Es ist schwierig, einen Übersetzer zu betrügen“

Claudio Magris
Claudio Magris 2009 bei seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche, nachdem ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels überreicht wurde. - Bild: Dontworry, Lizenz CCBYSA 3.0

Claudio Magris (Jahrgang 1939) ist ein italienischer Schriftsteller, Germanist und Literaturübersetzer. Im Jahr 2009 wurde er mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Darüber hinaus hat er im Lauf seines Lebens praktisch alle in Deutschland und Österreich zu vergebenden Orden erhalten.

Von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2006 lehrte er als Professor für moderne deutschsprachige Literatur an der Universität Triest.

Der Autor und seine Übersetzer – eine besondere Beziehung

An einem Studientag zum Thema „Schreiben und Übersetzen“ hielt Magris 2005 in Triest einen Vortrag mit dem Titel „Der Autor und seine Übersetzer“. Darin schildert er sowohl seine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den Übersetzern eigener Werke als auch die Erkenntnisse, die er aus eigener Übersetzertätigkeit gewann.

Auf neunzehn Textseiten hebt Magris wiederholt hervor, dass das Übersetzen eine intellektuell anspruchsvolle und kreative Tätigkeit ist. Übersetzungen haben seiner Ansicht nach stets zwei Urheber, nämlich den Autor und den Übersetzer.

Magris weiß, wovon er spricht. Einige seiner Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt: Donau – Biographie eines Flusses in 23 und Ein anderes Meer in 14 Fremdsprachen. Darüber hinaus trat er selbst als Übersetzer aus dem Deutschen in seine Muttersprache Italienisch in Erscheinung.

Übersetzer ist Komplize, Bruder und Rivale

Nachfolgend als Appetithäppchen einige Gedankensplitter:

„Übersetzen ist unmöglich, aber notwendig.“ So hieß es in dem wundervollen Buch […], mit welchem ich vor vielen Jahren, ja vor vielen Jahrzehnten Deutsch lernte. Ich glaube, dass dieser Satz die ganze Thematik der Übersetzung enthält. […]

Bei meiner Arbeit als Schriftsteller schulde ich der Übersetzung, der Erfahrung des eigenen Übersetzens und des Übersetztwerdens, viel – genauso wie andere Autoren, glaube ich. […]

Tatsächlich sind die Worte, die ein Übersetzer beim Übersetzen schreibt, immer auch die seinen. Für mich ist der Übersetzer, was der Leser für Baudelaire war: Komplize, Bruder und Rivale. Wenn ich eines meiner übersetzten Bücher im Ausland vorstelle, sage ich zu Beginn stets: „Dieses Buch habe ich geschrieben“ – und zeige auf die italienische Ausgabe -, „dieses Buch hingegen“ – dabei zeige ich auf die Übersetzung – „haben wir, ich und (es folgt der Name des Übersetzers oder der Übersetzerin), geschrieben“.

Friedrich Schlegel: Übersetzung erste Form der Literaturkritik

Darüber hinaus ist die Übersetzung, wie Friedrich Schlegel sagte, die erste Form der Literaturkritik, weil sie sofort die starken und die schwachen Punkte eines Textes entdeckt und merkt, wo ein Text standhält und wo er wackelt, selbst wenn es der Autor zu simulieren und zu dissimulieren verstand. Es ist schwierig, einen Übersetzer zu betrügen. […]

Beispielsweise fragte mich die schwedische Übersetzerin von Ein anderes Meer, ob eine Nichte, die in dem Buch vorkommt, eine Nichte väterlicherseits oder mütterlicherseits sei, denn im Schwedischen drückt man das verschieden aus. Ich wusste es nicht, und es interessierte mich auch nicht, im Roman spielte das keine Rolle, aber die schwedische Übersetzerin musste es wissen. Aber auch das sind nur Probleme am Rande. Die wesentlichen Elemente sind Syntax und Rhythmus. […]

Versuchung zu erklären eine der größten Gefahren beim Übersetzen

Ich glaube, dass die Versuchung zu erklären eine der größten Gefahren beim Übersetzen ist und das Ergebnis enorm beeinträchtigen kann. Schwierigkeiten, einen gewissen Schwierigkeitsgrad muss man akzeptieren. Man muss das Risiko eingehen, dass eine Anspielung womöglich nicht leicht verständlich ist. […]

Wenn wir die großen russischen Romane lesen, in denen hin und wieder Wörter vorkommen, deren genaue Bedeutung wir nicht kennen, und wenn wir auch nicht genau wissen, wo ein bestimmter Ort liegt oder um was für eine Speise es sich handelt oder was es gar mit einer bestimmten Andeutung auf sich hat, so verstehen wir doch ihre poetische Bedeutung, ihren evokativen Wert, während eine platte didaktische Erklärung die Evokation und den literarischen Gehalt zweifellos zerstören würden.

Der vollständige Text von Magris Ausführungen wird in deutscher Sprache auf der Website der Università degli Studi di Trieste als PDF-Datei bereitgehalten.

Weiterführender Link

  • Claudio Magris: „Der Autor und seine Übersetzer„, in: Prospero. Rivista di Letterature Straniere, Comparatistica e Studi Culturali, XII (2005), S. 11-29 (PDF-Datei, 19 Seiten).

[Text: Richard Schneider.]

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