Spielräume der Translation – Dolmetschen und Übersetzen in Theorie und Praxis

Dolmetscherrelief
Das Dolmetscher-Relief aus dem Grab des Pharaos Haremhab in Memphis stammt aus dem Jahr 1330 v. Chr. Es handelt sich um die älteste bekannte bildliche Darstellung eines Dolmetschers.

Was verstehen wir eigentlich unter Dolmetschen? Was bezeichnen wir als Übersetzung? Und wie groß sind die Spielräume, die wir Übersetzern und Dolmetschern zugestehen? All diese Fragen greift der Band Spielräume der Translation auf.

Spielräume der TranslationEin Teil der Beiträge beschäftigt sich mit Themenbereichen der intra- und interlingualen Übersetzung unter besonderer Berücksichtigung sprachlich-struktureller Phänomene. Unter der Überschrift „Mehr als nur Sprache“ behandelt ein weiterer Teil das Übersetzen und Dolmetschen für zielkulturelle Adressaten unter professionellem Blickwinkel.

Darüber hinaus gehen weitere Beiträge nicht nur auf die Translation im Medienverbund Sprache – Musik – Bild, sondern auch auf die besondere Rolle nicht-sprachlicher Elemente ein.

Die Forschungsergebnisse dieses Bandes richten sich in erster Linie an Translationswissenschaftler, sind aber auch für Praktiker und Studierende gleichermaßen von Interesse.

Von Cicero bis Goethe – Seit der Antike wird über Sinn und Zweck von Übersetzungen nachgedacht

In ihrem einleitenden Kapitel weisen die Herausgeber darauf hin, dass schon seit Jahrtausenden über das Übersetzen an sich philosophiert wird:

Die Diskussion zu diesem Fragenkomplex besteht zumindest schon seit der Antike. So spricht Marcus Tullius Cicero (106–43v. Chr.) in seinem Werk De optime genere oratorum 5.14 davon, dass er „nicht wie ein Übersetzer übersetzt [habe], sondern wie ein Redner […] nicht Wort für Wort, […] sondern so, dass Stil und Kraft ihrer [d. h. der griechischen Redner und Politiker Aeschines & Demosthenes] Worte erhalten blieben“ („… nec converti ut interpres, sed ut orator […] non verbum pro verbo […] sed genus omne verborum vimque servavi“).

Und Eusebius Sophronius Hieronymus (ca. 331/348–420 n. Chr.) schrieb im Brief (Nr. 57) an Pammachius Über die beste Art des Übersetzens: „Ego enim non solum fateor, sed libera voce profiteor me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est, non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu.“: „Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist – nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücke …“

Hieronymus
Schon dem alten Hieronymus war vor 1.600 Jahren klar, dass nicht Wörter, sondern Inhalte übersetzt werden. – Bild: Gemälde von Caravaggio, von UEPO verfremdet

Im deutschen Sprachraum werden diese Gedanken von den deutschen Frühhumanisten und Martin Luther aufgegriffen. So begründet Albrecht von Eyb (1420–1475) in seinem Spiegel der Sitten seine Übersetzung mit den Worten: „Sowohl die Komödien als auch die Gedichte hab ich aus dem Lateinischen ins Deutsche gebracht nach meinem Vermögen. Nicht Wort für Wort, da das ganz unverständlich wäre, sondern nach Sinn und Bedeutung des Stoffes, so wie sie am verständlichsten und besten lauten mögen …“.

Und der deutsche Reformator Martin Luther (1483–1546) verteidigt sich in seinem Sendbrief vom Dolmetschen (1530) gegen den Vorwurf, nicht wörtlich übersetzt zu haben: „Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.“

Unter „Dolmetschen“ versteht Luther offensichtlich eine interpretierende Übertragung, die sich mehr am Sinn orientiert denn am ausgangssprachlichen Wortlaut und das Produkt (die Übersetzung) soll mündlich verkündbar sein. Für den konkreten zielsprachlichen Formulierungsprozess gebraucht Luther dann das Verb „deutschen“.

In den Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens aus dem Jahr 1533 findet man die gleiche Begründung: „Denn wir haben (uns an) die Regel gehalten: Wo es die Worte erlaubt haben und ein besseres Verständnis ergeben, da haben wir uns nicht durch die von den Rabbinen gemachte Grammatik zur schlechteren oder anderen Bedeutung zwingen lassen. Wie denn alle Schulmeister lehren: daß nicht der Sinn den Worten, sondern die Worte dem Sinn dienen und folgen sollen.“

Damit verwirft Luther die von manchen seiner Zeitgenossen praktizierte Bindung an die sprachlichen Strukturen des Ausgangstextes (verbum e verbo), die dazu führte, dass man die Übersetzung eigentlich nur verstehen konnte, wenn man auch die Grammatik der Ausgangssprache beherrschte wie z. B. die von Johannes Mentelin 1466 in Straßburg gedruckte und herausgegebene Bibelübersetzung.

Peter der Große
Peter der Große auf einem Gemälde von Paul de la Roche aus dem Jahr 1838 (gemeinfrei).

Auf die kommunikative Funktion der Übersetzung legt auch Peter der Große (1672–1725) Wert, wenn er in einem Brief vom Februar 1709 an seinen Übersetzer schreibt: „Und hinsichtlich des Buches, welches Sie jetzt übersetzen, müssen Sie sich bemühen, verständlicher zu übersetzen, insbesondere jene Abschnitte, welche lehren, wie man es (praktisch) machen soll. Und man soll sich in der Übersetzung nicht Wort für Wort an den Text halten, sondern, nachdem man den Inhalt verstanden hat, ihn in der eigenen Sprache schon so ausdrücken, wie es am ehesten begreiflich wird.“

Auf den kulturgebundenen bzw. kulturspezifischen Inhalt beziehen sich eher die von Schleiermacher und Goethe diskutierten Übersetzungsprinzipien des einbürgernden und des verfremdenden Übersetzens. So sagte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) in seinem Vortrag am 24. Juni 1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin mit dem Titel Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens: „Entweder der Übersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“

Ähnlich drückte es Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) am 18.2.1830 in der Trauerrede Zu brüderlichem Andenken Wielands aus: „Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde … die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben“.

Damit bewegt sich das schon seit der Antike aktuelle Problem, was denn nun „übersetzt“ wird, zwischen zwei extremen Positionen: die Sprache als Form und als Inhalt bzw. Text (verbum e verbo) oder der zu kommunizierende Sinn (sensum exprimere de sensu).

Das bedeutet, dass entweder ausgangssprachliche Strukturen möglichst nach einem Skopos „getreu“ im Zieltext abgebildet werden (hoher Bindungsgrad an den Ausgangstext wie in der Regel beim literarischen Übersetzen) oder eher der Zieltext nach einer neuen Funktion in der Zielkultur ausgerichtet nach einem anderen Skopos (Vermeer 1986) formuliert wird (mehr oder weniger geringer Bindungsgrad an den Ausgangstext).

Inhaltsverzeichnis

  • Sigmund Kvam, Ilaria Meloni, Anastasia Parianou, Jürgen F. Schopp, Kåre Solfjeld: Dolmetschen, Übersetzen und noch mehr …
  • Anu Viljanmaa: Spielräume beim Dialogdolmetschen. Zwischen Berufskodex und allgemeiner Moral – Wann und warum wird von der Norm abgewichen?
  • Lars Felgner: Die prinzipielle Kommunikativität des Körpers beim Kommunaldolmetschen
  • Anastasios Ioannidis: Das Profil der Gerichtsdolmetscher in Griechenland und Deutschland
  • Evangelos Tsirmpas: Dolmetschen im Babel des Dritten Reichs – Blick auf ein Forschungsfeld
  • Maija Hirvonen: Audiodeskription und Sichtdolmetschen: Translation über Sinnesgrenzen – Eine Begriffsanalyse
  • Ismini Karantzi: Audiovisuelle Übersetzung und ihre Grenzen: Richtlinien, Normen und praktische Anwendungen – Ein Erfahrungsbericht
  • Kåre Solfjeld: Redewiedergabe im Deutschen und Norwegischen – Divergierende Systeme und übersetzerische Probleme
  • Kjetil Berg Henjum: Die Übersetzung dialektaler und gesprochensprachlicher Figurenrede am Beispiel von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und seinen beiden Übersetzungen ins Norwegische
  • Jürgen F. Schopp: Der Text im Text. Oder: Typographie als narratives Element. Beispiele zu einem visuellen Translationsproblem
  • Anastasia Parianou: Technische Ikonotexte und Translation – Zum Mit- und Ineinander von Text und Bild in Instruktionstexten
  • Ilaria Meloni: Translatorischer Spielraum und Comics – das Beispiel der Disney-Geschichten
  • Sigmund Kvam: Sprache in Fesseln – Zur Übersetzung von Liedern im Rahmen eines erweiterten Translationsbegriffs
  • Nina Zandjani: Paratexte in Übersetzungen zwischen Kulturen Deutsche Übersetzungen des klassischen persischen Werkes „Der Rosengarten“ (Golestân) von Sa’di

Bibliografische Angaben

  • Sigmund Kvam, Ilaria Meloni, Anastasia Parianou, Jürgen F. Schopp, Kåre Solfjeld (Hg., 2018): Spielräume der Translation – Dolmetschen und Übersetzen in Theorie und Praxis. Münster: Waxmann. 332 Seiten, gebunden 44,90 Euro, Kindle-Version 39,99 Euro, ISBN 978-3-8309-3786-9. Auf Amazon ansehen/bestellen.

[Text: Waxmann-Verlag.]