Erkundung und Überwindung der Fremde: Esther Kinsky erhält Erich-Fried-Preis 2020

Esther Kinsky
Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen im Bergischen Land geboren und lebt heute in Berlin und im Friaul. - Bild: Heike Steinweg

Für ihr schriftstellerisches und übersetzerisches Werk wird die Deutsche Esther Kinsky mit dem österreichischen Erich-Fried-Preis 2020 ausgezeichnet. Das hat die Autorin Maja Haderlap als Einzeljurorin entschieden, wie die Internationale Erich-Fried-Gesellschaft mitgeteilt. Die öffentliche Preisverleihung findet am 29. November 2020 umd 11:00 Uhr im Literaturhaus Wien statt.

Renommierter Preis wird seit 30 Jahren vergeben

Der Erich-Fried-Preis gehört zu den renommiertesten literarischen Auszeichnungen Österreichs. Er wird seit 1990 durch die Fried-Gesellschaft vergeben und – das ist eine Besonderheit dieses Preises – nicht von einer Jury, sondern von jährlich wechselnden Einzeljuroren entschieden. Der Preis wird vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport gestiftet und ist mit 15.000 Euro dotiert. Zu den Preisträgern der letzten Jahre zählen Terézia Mora, Thomas Stangl, Nico Bleutge, Rainer Merkel, Judith Hermann, Dorothee Elmiger, Leif Randt, Teresa Präauer und zuletzt Steffen Mensching.

Kinsky bereits vielfach ausgezeichnet

Esther Kinsky wurde zuletzt 2018 für Hain: Geländeroman (Suhrkamp), mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, ein Roman, der „subtil, emphatisch und unerbittlich das Terrain zwischen den Lebenden und den Toten erkundet“ (NZZ). Im März 2020 erschien Kinskys Gedichtband Schiefern (Suhrkamp): Verortet auf den schottischen Slate Islands beschäftigt sich die Autorin mit der von intensivem Schieferabbau geprägten Geschichte des Archipels, den bizarren Landschaften der Trümmer und gefluteten Steinbrüche – und vor dem Hintergrund dieser Topologie mit dem „Schichtwerk“ menschlicher Erinnerung.

Übersetzen zur „Überwindung der Fremde“

Die Jurorin Maja Haderlap begründet ihre Wahl wie folgt:

Maja Haderlapp
Maja Haderlapp – Bild: Max Axmann

Esther Kinsky ist eine europäische Schriftstellerin und Übersetzerin, die sich in ihrer Arbeit der Erkundung und Überwindung der Fremde verschrieben hat: Der Fremde als existenzieller, menschlicher Erfahrung, der Fremde zwischen benachbarten Sprachen und Literaturen.

In ihren Texten reist sie an Peripherien, um etwas zur Sprache zu bringen, in Sprache zu übersetzen, das zumeist unbeachtet bleibt, und aus unserer allgemeinen Wahrnehmung verdrängt wird: Das scheinbar Unwichtige, Vergängliche, Aufgelassene, die Bruchhalden, die Totenhaine, die Unergründlichkeit von Naturerscheinungen.

Ihr Interesse gilt nicht dem Repräsentativen, Vordergründigen. Es gilt jener Welt, die nicht aus der unermüdlichen Produktion von Ereignissen besteht, die scheinbar statisch, aber gerade deshalb randvoll mit Geschichte und Veränderungsprozessen ist.

Esther Kinskys schriftstellerisches und übersetzerisches Werk zeugt von Widerständigkeit, vom ständigen Bemühen um kulturelle und sprachliche Zusammenhänge, von der meisterhaften Anverwandlung der Sprache in Bilder. Es erinnert uns daran, dass Identität und Heimat nur im Zustand des Übergangs, und im Einverständnis mit den anderen, dem Anderen, Fremden, wirksam werden.

Die Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Andrea Mayer, ergänzt:

Andrea Mayer
Andrea Mayer – Bild: A. Wenzel / BMKÖS

Der Erich-Fried-Preis ist nicht nur durch seinen Namensgeber ein ganz besonderer Preis für deutschsprachige Literatur, er ist auch aufgrund seines Vergabemodus in Österreich einzigartig. Zur Wahl des Preisträgers bzw. der Preisträgerin ist keine Jury, sondern ein einzelner Juror bzw. eine Jurorin, der bzw. die vom Kuratorium der Internationalen Erich-Fried-Gesellschaft ausgewählt wird, vorgesehen. Und dass bei der 31. Vergabe dieses Preises Maja Haderlap diese verantwortungsvolle Rolle übernommen hat, freut mich ganz besonders.

Sie hat Esther Kinsky für diesen Preis ausgewählt, eine Autorin und Übersetzerin, die in rund drei Jahrzehnten ein erstaunlich vielfältiges und von der Kritik hochgelobtes Werk vorgelegt hat. Indem sie sich abseits der Zentren bewegt und immer wieder Natur, Geschichte und Erinnerung in die Sprachen des Gedichts und der Prosa zu verwandeln und zu übersetzen weiß, hat sie sich nicht nur im Feuilleton und bei der Literaturkritik durchgesetzt, sondern auch eine große Leserschaft erschrieben, die ihr begeistert von Buch zu Buch folgt. Ich gratuliere Esther Kinsky sehr herzlich zum Erich Fried Preis des Jahres 2020.

Kinsky übersetzt aus dem Polnischen, Russischen und Englischen

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen (Nordrhein-Westfalen) geboren und lebt heute in Berlin und im Friaul. Ihr umfangreiches Werk umfasst Lyrik, Erzählprosa und Essays sowie Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen (u. a. Werke von Miron Białoszewski, Magdalena Tulli, Julia Fiedorczuk, Swetlana Vasilenko, John Clare und Lewis Grassic Gibbon). Zuletzt erschienen bei Matthes & Seitz Banatsko. Roman (2011), Aufbruch nach Patagonien. Lyrik (2012), Naturschutzgebiet. Lyrik (2013), Am Fluss. Roman (2014), Am kalten Hang: viagg’ invernal. Lyrik (2016); bei Suhrkamp Hain: Geländeroman (2018) und 2020 der Gedichtband Schiefern.

Kinsky wurde bereits vielfach ausgezeichnet: als Übersetzerin u. a. mit dem Paul-Celan-Preis (2009), Karl-Dedecius-Preis (2011) und Internationalen Hermann-Hesse-Preis (2018, zusammen mit Joanna Bator); als Autorin u. a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis (2015), Preis der SWR-Bestenliste (2015), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2016) und dem Preis der Leipziger Buchmesse (2018).

Haderlap übersetzt aus dem Slowenischen – Leben zwischen zwei Sprachen

Maja Haderlap wurde 1961 in Bad Eisenkappel/Železna Kapla (Kärnten) geboren. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien war sie von 1989 bis 1992 Redakteurin und Herausgeberin der österreichischen Kulturzeitschrift in slowenischer Sprache Mladje, arbeitete danach 15 Jahre als Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Seit 1989 ist Maja Haderlap Lehrbeauftragte am Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Literarisch wandte sie sich zunächst der Lyrik zu, dichtete auf Slowenisch, später auch auf Deutsch und arbeitete an Übersetzungen vom Slowenischen ins Deutsche. 2011 wurde Maja Haderlap mit einem Auszug aus ihrem ersten Roman Engel des Vergessens (Wallstein Verlag) mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. 2014 erschien im selben Verlag ihr Gedichtband langer transit, dessen zentrale Themen Sprachverlust, Sprachwechsel und das Leben zwischen zwei Sprachen sind.

Die Autorin wurde u. a. mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch (2011), dem Rauriser Literaturpreis (2012), dem Max-Frisch-Preis (2018) und zuletzt 2019 mit dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur ausgezeichnet.

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