Am 28. Juli 2020 konnte Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Bierwisch seinen 90. Geburtstag feiern. Bierwisch gilt als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Sprachwissenschaftler nicht nur in Deutschland, sondern auch international.
Beginnend mit seiner Dissertation 1961 haben seine Arbeiten die Kerngebiete der deutschen Sprachwissenschaft revolutioniert und den Grundstein für eine moderne Grammatiktheorie gelegt, wie sie heute noch weitestgehend gültig ist. Seine Forschung erstreckte sich darüber hinaus auch auf angrenzende Disziplinen wie die Neuropsychologie, aber auch Literatur und Musik.
Als Wissenschaftler in der DDR war er dabei schwierigen politischen Umständen ausgesetzt, gleichzeitig gab es jedoch auch immer wieder Förderer, die seine außergewöhnliche Begabung erkannten und es ihm ermöglichten, weiter zu forschen.
Als Student wegen Besitzes von Westzeitschriften zu Gefängnis verurteilt
Obwohl als Student wegen des unerlaubten Besitzes von Westzeitschriften zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt, bekam Bierwisch nach seinem Examen mit einer Gruppe von weiteren hervorragenden Absolventen die Chance, an der Akademie der Wissenschaften in Berlin in der neu eingerichteten Arbeitsgruppe „Strukturelle Grammatik“ zu promovieren. Die Aufgabe an die Gruppe war, eine moderne Grammatik des Deutschen auszuarbeiten.
Im Gegensatz zu den bis dahin üblichen, sprachhistorisch geprägten Grammatiktheorien, liegt den strukturalistischen Grammatiktheorien eine formale, naturwissenschaftliche Herangehensweise zugrunde.
Bereits Bierwischs Dissertation „Zur Morphologie des deutschen Verbalsystems“ war Ende der 50er Jahre so neuartig, dass seine Promotion beinahe gescheitert wäre, hätten nicht der berühmte Strukturalist Roman Jakobson und der Leiter der Arbeitsgruppe, Wolfgang Steinitz, interveniert. Die Dissertation wurde später als „Grammatik des deutschen Verbs“ veröffentlicht – die Analysen darin sind im Kern noch heute gültig.
Eine wesentliche Erkenntnis von Bierwisch war, dass das Deutsche zugrundeliegend eine Sprache mit Verbendstellung ist, wie man es unmittelbar in den Nebensätzen sieht. Ein Hauptsatz entsteht, indem das finite Verb vorangestellt und ein weiterer Satzteil noch vor dieses bewegt wird. Hat das Verb eine trennbare Vorsilbe, wie zum Beispiel „anfangen“, dann bleibt diese hinten stehen, und es entstehen so merkwürdige Satzgebilde wie „Die Gärtnerin fing mit dem Heckenschneiden an“.
Veröffentlichung von Strukturalismus-Aufsatz im Westen
1966 erschien sein Aufsatz „Strukturalismus – Geschichte, Probleme und Methoden“ im Kursbuch, herausgegeben von Hans-Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag. Der Artikel entfaltete im damaligen Westdeutschland eine so mächtige Wirkung, dass die Sprachwissenschaft für einige Jahre zur Modewissenschaft wurde.
Seit seiner Dissertation stand Bierwisch über Briefwechsel im engen wissenschaftlichen Austausch mit Noam Chomsky und seinen Kollegen am MIT wie zum Beispiel Morris Halle, wo man so beeindruckt von dem Sprachwissenschaftler war, dass nicht nur westdeutsche, sondern auch US-amerikanische Linguisten sich auf den Weg machten, um Bierwisch in Ostberlin zu besuchen, der zu jener Zeit noch nicht ins Ausland reisen durfte.
Strukturalismus und generative Grammatik Fehlauslegung des Marxismus?
Nach dem Prager Frühling 1968 galt der Strukturalismus in der DDR als „falsche“ Auslegung des Marxismus als ideologisch verdächtig – ein willkommener Vorwand für die Kritiker der modernen Grammatiktheorie, die Arbeitsgruppe Strukturelle Grammatik im Jahr 1972 aufzulösen. Trotz aller politischen Schwierigkeiten blieb Bierwisch in der DDR.
Nachdem sich die politische Situation in der Akademie durch eine neue Leitung etwas gelockert hatte, bekam der „Problemfall“ Bierwisch 1981 eine neue Chance und durfte am Zentralinstitut für Sprachwissenschaften der Akademie der Wissenschaften eine Arbeitsgruppe „Kognitive Linguistik“ einrichten. Nicht zuletzt die Reputation dieser Arbeitsgruppe hat dazu geführt, dass die Arbeit des Instituts nach der Wende positiv evaluiert wurde und letztlich zum heutigen Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) geführt hat.
Als 1992 die Akademie der Wissenschaften aufgelöst wurde, wurde Bierwisch von der Max-Planck-Gesellschaft die Leitung einer erneuten Arbeitsgruppe „Strukturelle Grammatik“ übertragen, die für fünf Jahre an der Humboldt-Universität angesiedelt war. 1993 wurde er zum ordentlichen Professor an die Humboldt Universität berufen und ist seitdem assoziierter Wissenschaftler des ZAS.
Carla Umbach und Annette Leßmöllmann im Gespräch mit Bierwisch
Carla Umbach vom ZAS und Annette Leßmöllmann vom KIT (Karlsruher Institut für Technologie) haben im Mai 2019 ein ausführliches Gespräch mit Bierwisch geführt, das aus Anlass seines Geburtstags auf Vimeo veröffentlicht wurde. Bierwisch geht darin auf die historischen Umstände seiner Forschung ein und erläutert auch die Meilensteine seiner Theorien:
Ehrungen und Preise
Die weltweite Anerkennung, die Bierwisch genoss und noch genießt, zeigt sich auf vielfältige Weise: 1979 wurde er als Ehrenmitglied in die „Linguistic Society of America“ aufgenommen. 1982 war er für einen längeren Gastaufenthalt in das Center of Advanced Study, Stanford eingeladen. 1985 wurde er zum „Auswärtigen Wissenschaftlichen Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik ernannt. 1990 verlieh ihm die Universität Jena die Ehrendoktorwürde. 1991 wurde er in die prestigeträchtige Academia Europaea aufgenommen. Seit 1993 gehört er dem Präsidium des Goethe-Instituts an. Von 1993-1998 war Bierwisch Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 1998 wurde er zum Ehrenmitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (SAW) ernannt. Im Oktober 2005 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig verliehen. Im März 2012 wurde er von der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) für sein Lebenswerk mit dem Wilhelm-von-Humboldt-Preises ausgezeichnet. 2016 wurde Manfred Bierwisch in die „Wall of Fame“ des ZAS aufgenommen.
Über das Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS)
Das Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) ist ein außeruniversitäres Forschungsinstitut des Landes Berlin, das gemeinsam von Bund und Ländern gefördert wird. Träger ist der Verein Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin (GWZ e. V.).
Aufgabe des Zentrums ist die Erforschung der menschlichen Sprachfähigkeit im Allgemeinen und deren Ausprägung in Einzelsprachen. Ziel ist es, diese zentrale Fähigkeit des Menschen und ihre biologischen, kognitiven und sozialen Faktoren besser zu verstehen. Durch das Verständnis der Strukturen von Sprache, ihres Erwerbs und ihrer Verarbeitung werden Grundlagen für mögliche Anwendungen geschaffen, z. B. im Bereich Sprachdiagnostik oder Sprachtechnologie. Neben seiner Funktion als Forschungsinstitut übernimmt das ZAS auch Aufgaben in der universitären Lehre und in der Koordination nationaler und internationaler Verbundprojekte.
Fabienne Salfner / Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS)