Unglaublich: Literaturübersetzer fängt erst nach Auftragserteilung an, Ausgangssprache zu lernen

Christian Morgenstern, Henrik Ibsen
Christian Morgenstern (links) hat sämtliche Werke von Henrik Ibsen ins Deutsche übersetzt. - Bild: gemeinfrei

Es klingt unglaublich, ist aber wahr: Im Oktober 1897 erhält ein 26-jähriger Bursche mit lückenhafter Schulbildung und abgebrochenem Studium, der sich als Dichter und Übersetzer versucht, vom S. Fischer Verlag den Auftrag zur Übertragung aller bisherigen Werke eines weltbekannten Autors und fängt dann erst an, dessen Sprache zu lernen.

Noch unglaublicher ist, dass der Autor anschließend voll des Lobes ist: „Ja, ich finde sie [die Übersetzung] außerordentlich gelungen, die Verse sind in so fließendem Deutsch, wie ich das bei einer Übersetzung gar nicht für möglich gehalten hätte“, schreibt er einige Jahre später. Und er bittet den Übersetzer sogar, Textrevisionen anderer Prosastücke zu übernehmen.

Christian Morgenstern übersetzt Henrik Ibsen

Der Übersetzer heißt Christian Morgenstern (1871-1914), der damals erst am Anfang einer großen Karriere als Dichter, Schriftsteller und Übersetzer stand. Und der Autor ist kein Geringerer als der norwegische Dramatiker und Lyriker Henrik Ibsen (1828-1906).

Ibsen feierte mit seinen Theaterstücken seit 1878 große Erfolge in Deutschland. Da er mit den bisherigen Übersetzungen aber nicht sonderlich zufrieden war, machte sich sein Verlag auf die Suche und sprach Christian Morgenstern an.

Die Wahl fiel vermutlich deshalb auf Morgenstern, weil dieser kurz zuvor (im Sommer 1897) die autobiografischen Aufzeichnungen Inferno des Schweden August Strindberg ins Deutsche übersetzt hatte.

Grundlage der Übersetzung war allerdings die französische Übersetzung des Buchs. Morgenstern war damals weder der schwedischen noch der norwegischen Sprache mächtig.

Über den Übersetzungsauftrag zur Übertragung sämtlicher Werke Ibsens ins Deutsche zeigt sich Morgenstern sehr erfreut, sichert dieser doch den Lebensunterhalt für mehrere Jahre. Darüber hinaus reizt ihn die intellektuelle Herausforderung. An die mit ihm befreundete Marie Goettling schreibt er:

Die Aufgabe ist gewiß sehr schwer, aber ich wüßte mir keine Ehrenvollere und mehr den Ehrgeiz entflammende. Die Übersetzungen sind für die einzige autorisierte deutsche Ausgabe von Ibsen bestimmt und wären demnach für alle Zukunft die allein maßgebende und mustergültige.

Morgenstern reist nach Norwegen und bleibt dort eineinhalb Jahre

Das Norwegisch-Lernen nimmt Christian Morgenstern sehr ernst und betreibt es vor Ort: Von Mai 1898 bis Herbst 1899 bereist er das Land.

In den eineinhalb Jahren im Norden trifft er auch mehrmals seinen Autor Henrik Ibsen.

Ibsen lebte 17 Jahre in Deutschland und sprach fließend Deutsch

Morgenstern hat also für den mehrjährigen Großauftrag fleißig Norwegisch gelernt. Wie aber konnte Ibsen die Qualität der Übersetzungen beurteilen?

Der norwegische Dramatiker hat insgesamt 11 Jahre in München und 6 Jahre in Dresden gelebt. Er sprach fließend Deutsch. Darüber hinaus wohnte er gut 10 Jahre in Rom.

In der Zeit seines 27 Jahre währenden Aufenthalts in Mittel- und Südeuropa (1864-1891) schuf Ibsen viele seiner bekanntesten Werke wie Peer Gynt (1867), Stützen der Gesellschaft (1877) und Nora oder Ein Puppenheim (1879).

Als der Übersetzungsauftrag an Morgenstern erging, lebte Ibsen aber bereits wieder seit sechs Jahren in seiner Heimat Norwegen.

(Auf diese interessante Episode deutsch-norwegischer Literaturgeschichte sind wir durch das Börsenblatt aufmerksam geworden, das sie in seinem „Adventsrätsel“ präsentierte.)

Richard Schneider