Die Floskel des Jahres 2020 lautet „Einzelfälle“

Floskel des Jahres
Bild: Floskelwolke

Das 2014 gestartete sprach- und medienkritische Webprojekt Floskelwolke von Udo Stiehl und Sebastian Pertsch hat die fünf Gewinner der Negativauszeichnung „Floskel des Jahres“ bekannt gegeben. In der Pressemitteilung heißt es:

*

Platz 1: Einzelfälle

Schon der „Einzelfall“ kann als Euphemismus betrachtet werden. Doch Polizei und Politik haben mit der Verharmlosung von Rechtsextremismus in den Behörden eine unrühmliche Komposition erfunden: die „Einzelfälle“. Ein innerer Widerspruch, der in unserem demokratischen Rechtsstaat brandgefährlich ist.

Platz 2: Corona-Gegner

Ein Kompositum scheitert an sich selbst. Natürlich sind alle gegen das Virus – gemeint werden jedoch Gegner der Pandemie-Politik. Wer Schlagworte sinnlos verkürzt oder sinnlos verkürzte Schlagworte in Umlauf bringt, wird mit Spott nicht unter fünf Jahren bestraft.

Platz 3: Europäische Lösung

Egal bei welchem Thema: Zwar sind sich alle einig, aber auch alle unzufrieden. Denn der Kompromiss umfasst stets eine lange Liste von Ausnahmen und Sonderregeln. Bis es so weit ist, lässt sich mit dem Ruf nach einer europäischen Lösung jedoch viel politisches Kapital erzeugen.

Platz 4: Clan-Kriminalität

Wer Bandenkriminalität oder das Organisierte Verbrechen mit einer kräftigen Portion Rassismus anreichern möchte, spricht von Familienclans bzw. Clan-Kriminalität und ordnet die Beteiligten einer ausländischen Region zu. In den meisten Fällen ist die Täterherkunft jedoch irrelevant.

Platz 5: Fremdenfeindlichkeit

Wenn die Politik von „ausländerfeindlichen“ oder „fremdenfeindlichen“ Verbrechen spricht, übernimmt sie damit leider auch die Wortwahl und Gedankenwelt der Täter. Als Zitat zwar legitim, mit eigenen Worten sollte der Journalismus allerdings besser „rassistisch“ oder „rassistisch motiviert“ wählen.

Über den Negativpreis Floskel des Jahres

„Mit der Floskelwolke wollten wir eigentlich nie einen Preis vergeben. Denn unser Prinzip ist, nicht ein Medium oder sogar Kolleginnen und Kollegen anzuprangern, sondern den Begriff oder die Wortwahl“, sagt Udo Stiehl. Er fragte sich deshalb zusammen mit seinem Kollegen Sebastian Pertsch: „Wer sollte dann die Auszeichnung überreicht bekommen? Es ist aus diesem Grund ein Wettbewerb um die Inhalte, nicht um die Überbringer. Und wirklich rühmen sollte sich ohnehin niemand, der einen solchen ‚ausgezeichneten‘ Begriff verwendet. Schließlich ist es streng genommen ein Negativpreis“, so Stiehl.

„Wir bleiben also auch nach 6 Jahren mit der sprach- und medienkritischen Floskelwolke unserer Linie treu, niemanden vorzuführen und stattdessen die Worte und Phrasen in den Mittelpunkt zu stellen“, unterstreicht Sebastian Pertsch. „Die ‚Floskel des Jahres‘ bildet deshalb die redaktionellen Eindrücke aus den zurückliegenden zwölf Monaten ab – und zwar aus Sicht unserer Leserinnen und Leser und aus der Perspektive der Floskelwolke. Für den Negativpreis, den wir künftig immer am 1. Januar vergeben werden, erreichten uns 178 Vorschläge. Die meisten Einsendungen kamen wenig überraschend von Kolleginnen und Kollegen aus dem Journalismus bzw. der Medienwelt.“

„Wie nicht anders zu erwarten war, bezog sich ein großer Teil der Vorschläge auf das Coronavirus“, ergänzt Udo Stiehl. „69 von 178 Einsendungen und damit 39 Prozent hatten einen direkten oder indirekten Bezug zur COVID-19-Pandemie. Erstaunlich viele Formulierungen waren Kampfbegriffe und andere Buzzwords aus der sogenannten ‚Querdenker‘-Szene oder sie enthielten schräge Sprachbilder, die die Situationen in der Pandemie beschreiben. Euphemismen aus der Politik wurden ebenfalls häufig kritisiert, was nicht zuletzt am Erstplatzierten der erstmals vergebenen ‚Floskel des Jahres‘ zu erkennen ist.“

Sebastian Pertsch: „,Auch die klassischen Floskeln in Nachrichtenmedien können viele offenbar nicht mehr hören und unsere Leserinnen und Leser wünschen sich, dass sie im neuen Jahr möglichst vermieden werden. Die Top 5 der ‚Floskel des Jahres‘ sind daher nur ein kleiner Auszug dessen, was die Floskelwolke täglich und das seit 2014 beobachtet. Mit der Auszeichnung mit dem Negativpreis erhoffen wir uns, dass gerade in den Nachrichten, aber auch generell im Journalismus, in der die Sprache das wichtigste Werkzeug ist, künftig sensibler und intelligenter mit ihr umgegangen wird“, so Pertsch abschließend.

Über die Floskelwolke

Die Floskelwolke von Udo Stiehl und Sebastian Pertsch ist ein am 11. August 2014 gestartetes sprach- und medienkritisches Webprojekt, das dem professionellen Nachrichtengeschäft den Spiegel vorhalten soll. Mit der Floskelwolke kritisieren sie zum einen Floskeln, Phrasen und weitere fragwürdige Formulierungen in deutschsprachigen Nachrichtentexten. Zum anderen analysieren sie ihre Verwendung und Häufigkeit in den Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie möchten dabei nicht anprangern, sondern sensibilisieren. Die Floskelwolke soll also kein Damoklesschwert sein, das als Wolke über ihren Kollegen schwebt. Das wäre ohnehin ein schiefes Bild.

Natürlich sind nicht alle Floskeln schlimm! Die Sprache verändert sich und sie lebt auch von Bildern. Es entstehen neue Wortschöpfungen und Bedeutungen. Die Macher der Floskelwolke kritisieren vor allem jene Formulierungen, die nicht nur einfach überflüssig, manchmal auch amüsant sind – und auch primär nicht jene, die einen Text hässlich und langweilig machen. Einige Begriffe und Formulierungen sind allerdings tatsächlich schlimm, wenn es um präzise Sprache geht oder Sachverhalte möglichst neutral geschildert werden müssen. Dann können sie falsche Bilder erzeugen oder Informationen verschleiern.

Das (daten)journalistische Webprojekt ist werbefrei, unabhängig, für die Leser kostenfrei und wird ehrenamtlich betrieben. Es wird von den Machern privat finanziert, Sponsoren gibt es keine. Zusammen mit den Präsenzen in den sozialen Netzwerken erreicht die Floskelwolke mehrere zehntausend Leser wöchentlich. Sebastian Pertsch und Udo Stiehl wurden für die Floskelwolke mit dem „Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik“ ausgezeichnet und sie zählten zu den 25 Nominierten aus 1.400 Bewerbern des Grimme Online Award 2015. Seit Januar 2016 erscheint im renommierten Medienmagazin journalist des Deutschen Journalisten-Verbands ihre „Floskel des Monats“. Im Frühling darauf veröffentlichten die beiden Macher im PIPER-Verlag das unterhaltsame Sachbuch „Ihr Anliegen ist uns wichtig! So lügt man mit Sprache“.

Im Sommer 2019 feierte die Floskelwolke ihren fünften Geburtstag im wunderschönen Museum Barberini in Potsdam zusammen mit den Referentinnen und Referenten Brigitte Baetz, Samira El Ouassil, Ulla Fiebig, Raúl Krauthausen, Erhard Scherfer, Mario Sixtus und Frank Überall. Den Abend moderierte Fernsehmoderator Stefan Scheider (Das Erste). Die dreistündige Veranstaltung wurde live im Netz übertragen und enthielt neben Impulsvorträgen, einer Publikumsdebatte und einer Podiumsdiskussion auch unterhaltende Elemente wie Live-Musik und ein Fußball-Floskel-Bingo. radioeins (rbb) als Medienpartner begleitete das Event.

Über die Macher der Floskelwolke

Hinter der Floskelwolke stecken die beiden Journalisten, Nachrichtenredakteure und Sprecher Udo Stiehl aus Köln und Sebastian Pertsch aus Berlin. Wer fast täglich mit Nachrichten zu tun hat, dem sind die altbekannten Formulierungen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport geläufig. Sie tauchen immer wieder auf, obwohl sie abgedroschen sind oder journalistischen Maßstäben nicht genügen. Nachrichtenredakteure wissen das, bemerken es aber nicht immer – und das Publikum noch weit weniger. Die PR weiß das auszunutzen.

Wie sich so manche Floskel, Phrase oder Formulierung in den Medien hält oder sogar ausbreitet, machen die beiden Redakteure mit der Floskelwolke sichtbar. Bei der Auswahl der Begriffe greifen sie auf ihre Erfahrungen im Nachrichtengeschäft und die vielen Vorschläge ihrer Leserinnen und Leser zurück. Anprangern wollen sie nicht – aber nachdenklich machen. Sie betreiben die Floskelwolke mit einem gewissen Augenzwinkern, haben viel Spaß und Freude am Werk und der Sprache. Das journalistische Anliegen ist ihnen aber ernst.

* * *

Floskelwolke

Leipziger Buchmesse 2024