Unwörter des Jahres 2020: „Corona-Diktatur“ und „Rückführungspatenschaften“

Unwort des Jahres
Bild: Aktion Unwort des Jahres

Das Jahr 2020 ist in bisher kaum gekannter Weise von einem einzigen Thema geprägt worden, der Corona-Pandemie. Dadurch war auch der öffentliche Diskurs lange Zeit auf dieses eine Thema konzentriert.

Mit der erstmaligen Wahl eines Unwort-Paares nimmt die Jury Rücksicht darauf, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit wie in den Unwort-Einsendungen dominierte. Sie macht aber zugleich darauf aufmerksam, dass auch in anderen Themenbereichen weiterhin inhumane und unangemessene Wörter geprägt und verwendet werden. Als Unwörter des Jahres 2020 wurden daher „Rückführungspatenschaften“ und „Corona-Diktatur“ gewählt.

Mit dieser Doppelwahl will die Jury zudem erneut verdeutlichen, dass die „Unwort-Wahl“ keineswegs als Zensurversuch zu verstehen ist, wie ihr gelegentlich unterstellt wurde, sondern als Anlass zur Diskussion über den öffentlichen Sprachgebrauchund seine Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben.

Rückführungspatenschaften

Mit „Rückführungspatenschaften“(41 Mal vorgeschlagen) wurde im September 2020 von der EU-Kommission ein neuer Mechanismus der Migrationspolitikbezeichnet: Die EU-Staaten, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sollen ihrer „Solidarität“ mit den anderen Mitgliedern der EU dadurch gerecht werden, dass sie die Verantwortung für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber übernehmen.

Dies als „Rückführungspatenschaften“ zu bezeichnen, hält die Jury für zynisch und beschönigend: Der ursprünglich christlich geprägte, positive Begriff der Patenschaft steht für Verantwortungsübernahme und Unterstützung im Interesse von Hilfsbedürftigen. In der Zusammensetzung mit dem – ebenfalls beschönigend für „Abschiebung“ gebrauchten – Wort „Rückführung“ wird suggeriert, „dass Abschieben eine gute menschliche Tat“ (Zitat aus einer Einsendung) sei.

Corona-Diktatur

Das Wort „Corona-Diktatur“ (21 Mal vorgeschlagen) wurde seit Beginn des öffentlichen Diskurses um den politischen Umgang mit der Pandemie von der selbst ernannten „Querdenker“-Bewegung und insbesondere von deren rechtsextremen Propagandisten gebraucht, um regierungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu diskreditieren.

Dass der Ausdruck auf Demonstrationen verwendet wird, die – anders als in autoritären Systemen! – ausdrücklich erlaubt sind, stellt schon in sich einen Widerspruch dar. Zudem verharmlost der Ausdruck tatsächliche Diktaturen und verhöhnt die Menschen, die sich dort gegen die Diktatoren wenden und dafür Haft und Folter bis hin zum Tod in Kauf nehmen oder fliehen müssen.

Dies erscheint umso problematischer, als das Schlagwort oft von denen verwendet wird, die – wie es in einer Einsendung heißt – „ja selbst und zum Teil ganz offen auf die Abschaffung der bürgerlichen Freiheiten und der sie repräsentierenden Verfassung zielen“. Der Ausdruck macht es zudem schwieriger, berechtigte Zweifel an einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie offen und konstruktiv zu diskutieren.

Jury verabschiedet sich und legt Arbeit in jüngere Hände

Mit der Kür des 30. Unworts verabschiedet sich die Jury nach zehn Jahren der Zusammenarbeit in unveränderter Besetzung. Sprecherin Nina Janich und die anderen Juroren haben sich entschieden, das Projekt „Unwort des Jahres“ in andere, jüngere Hände zu legen.

Wir freuen uns, Kolleginnen und Kollegen gefunden zu haben, die es für ebenso wichtig halten wie wir, die unabhängige, sprachkritische Aktion auch 30 Jahre nach ihrer Gründung durch Horst Dieter Schlosser fortzusetzen.

Den Anstoß zum Wechsel haben teils berufliche, teils Altersgründe gegeben. Aber die bisherige Jury ist sich mit der neuen einig, dass das Projekt als Seismograf für inhumanen, diskriminierenden, undemokratischen und/oder verschleiernden Sprachgebrauch in der Öffentlichkeitmindestens so notwendig ist wie bei seiner Gründung 1991.

Der Konsens darüber, wo die „Grenzen des Sagbaren“ liegen, ist heute so brüchig wie nie in den vergangenen Jahrzehnten. Gerade deshalb erscheint es uns weiterhin wichtig, exemplarisch auf Verschiebungen dieser Grenzen öffentlich hinzuweisen, wenn sie einen sachlichen, an Fakten orientierten und nicht-diskriminierenden Diskurs gefährden. Das hat sich die Aktion „Unwort des Jahres“, die über keine anderen Mittel verfügt als den Versuch zu überzeugen, von Anfang an zum Ziel gesetzt. In diesem Sinne wünschen wir unseren Nachfolgerinnen und Nachfolgern Durchhaltevermögen und ein gutes Gelingen.

Bisherige Jury

Bislang bestand die Jury der institutionell unabhängigen und ehrenamtlichen Aktion „Unwort des Jahres“ aus folgenden Mitgliedern: den vier Sprachwissenschaftlern Prof. Dr. Nina Janich/Sprecherin (TU Darmstadt), Prof. Dr. Kersten Sven Roth (Universität Magdeburg), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald, pensioniert) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie dem Autor und freien Journalisten Stephan Hebel. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr die Autorin Kübra Gümüşay beteiligt.

Unwort des Jahres, Jury
Die Mitglieder der neuen Jury. – Bild: UdJ

Neue Jury

Die Mitglieder der neuen Jury, die ihre Arbeit mit der Wahl zum Unwort des Jahres 2021 aufnehmen wird, sind Prof. Dr. Constanze Spieß (Sprecherin, Uni Marburg), Dr. Kristin Kuck (Uni Magdeburg), Alexandra-Katharina Kütemeyer (Frankfurter Rundschau), Prof. Dr. Martin Reisigl (Uni Wien) und Dr. David Römer (Uni Trier).

Unwort-Statistik 2020

Die Jury erreichten 2020 insgesamt 1.826Einsendungen. Darunter waren 625 verschiedene Ausdrücke, von denen gut 70 den Unwort-Kriterien der Jury entsprachen. Zu den häufigsten Einsendungen (10 und mehr) zählten im Jahr 2020: Abschiebe-/Rückführungspatenschaft (41 Mal), Corona-Diktatur (21), Covidiot (43), Herdenimmunität (41), Öffnungsdiskussionsorgien (50), querdenken (55), Querdenker (116), Schweinestau (35), Social Distancing (34) und systemrelevant (180).

Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres