Internationaler Literaturpreis 2021 für Fatima Daas und Übersetzerin Sina de Malafosse

Fatima Daas, Sina de Malafosse
Ausgezeichnet wurden das Erstlingswerk von Fatima Daas (links) und dessen Übersetzung durch Sina de Malafosse. - Bild: Joel Saget / Getty Images, privat

Der Internationale Literaturpreis 2021 geht an die französische Schriftstellerin Fatima Daas (26) und ihre Übersetzerin Sina de Malafosse (37) für den Roman Die jüngste Tochter.

„Wir finden, zwei junge Frauen haben gemeinsam das erstaunlichste, sanftmütigste und rockigste, herausragendste und dringlichste internationale Buch in deutscher Sprache des diesjährigen Jahres geschrieben“, so Annika Reich und Dominique Haensell im Namen der Jury. „Wir staunen über seine vielfältige Sprache und jubeln darüber, dass uns nun die schönste aller Aufgaben zuteilwird, nämlich im Namen der Jury den Internationalen Literaturpreis 2021 zu verleihen.“

Den Inhalt skizziert die Jury wie folgt:
Fatima Daas: Die jüngste Tochter

Fatima ist das Kind, auf das keiner mehr gewartet hat, die Nachzüglerin, die einzige Tochter, die in Frankreich und nicht in Algerien zur Welt gekommen ist. Sie wächst mit ihren Schwestern in der berüchtigten Banlieue Clichy auf.

Liebe und Sexualität sind in ihrer Familie ein Tabu. In der Schule ist Fatima unangepasst, laut und voller Wissensdurst.

Sie hängt am liebsten mit den Jungs herum und fühlt sich falsch in ihrer Haut. Bis sie Nina trifft und ihre eigenen Gefühle für sie erkennt. Doch eine Frau zu lieben, bringt sie nicht nur in Konflikt mit ihrer Familie, ihrem Glauben, sondern auch mit sich selbst.

In der Laudatio wird erläutert, was die Jury überzeugt hat:

Jedes Wort dieses autofiktionalen Romandebüts zeugt von der Unerschrockenheit und verletzlichen Offenheit der Erzählerin, die als Tochter algerischer Einwanderer in Clichy aufwächst und versucht, die leidenschaftliche Gleichzeitigkeit zweier Outings zu ehren. Der Roman schildert die Suche nach einer Identität, in der eine junge Frau dem Islam näherkommen und sich von sexuellen Rollenzuschreibungen lösen kann, ohne das eine gegen das andere verteidigen zu müssen.

Es ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte und ein Text, der das Spannungsfeld zwischen der christlich-weißen Mehrheitsgesellschaft in Paris und den migrantisierten Minderheiten in den Vorstädten verhandelt.

All das ist präzise poetisch und unerhört zeitgemäß erzählt und dabei in aller Selbstverständlichkeit und Spannbreite (Koran, Lyrik, Rap) auf Traditionen der arabischsprachigen Literaturen bezogen. So als gäbe es das Leben, in dem ein gleichwertiges Nebeneinander von Identitäten möglich ist, längst. Mit Die jüngste Tochter ist Fatima Daas diesem Leben vorausgeeilt.

Fatima Daas, Sina de Malafosse
Fatima Daas und Sina de Malafosse am 30. Juni 2021 in Berlin bei der Preisverleihung. – Bild: Screenshot

Autorin schreibt unter Pseudonym

Fatima Daas hat an der Université Paris 8 Vincennes-Saint-Denis Literarisches Schreiben studiert. Für ihren jetzt auf Deutsch vorliegenden ersten Roman La petite dernière erhielt sie 2020 den Prix Les Inrockuptibles in der Kategorie „bestes Debüt“. Das Werk wird zurzeit in weitere Sprachen übersetzt.

Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen wehrt sich Daas gegen Rezensenten, die sie voreilig in die Schublade „lesbische Muslima“ stecken möchten: „In meinem Roman geht es nicht um Homosexualität im Islam. Es geht um eine Frau, die andere Frauen, aber auch ihren Gott liebt und dafür Selbsthass empfindet und diesen am Ende vielleicht überwinden kann. Ich habe das Buch für alle geschrieben, ob 25 oder 65 Jahre alt, aus Nordafrika oder nicht.“

Der Name „Fatima Daas“ ist übrigens ein Pseudonym und die Medien spielen das Spiel mit – wie auch lange Zeit bei Elena Ferrante. Im Netz ist (noch) nicht ermittelbar, wie die Autorin wirklich heißt.

Sina de Malafosse
Sina de Malafosse war von dem französischen Ausgangstext begeistert, wie sie bei der Preisverleihung erzählte. – Bild: Screenshot

Übersetzerin Sina de Malafosse lebt in Toulouse

Sina de Malafosse hat in Mainz und Dijon Romanistik und Komparatistik studiert. Nach verschiedenen Stationen im Verlagswesen übersetzt sie seit 2015 aus dem Französischen, u. a. Adeline Dieudonné, Pauline Delabroy-Allard und Violette Leduc. Die Jury lobt die in Toulouse lebende Übersetzerin:

Sina de Malafosse schafft es, in ihrer Übersetzung Präzision und Sprachspiel zu gleichen Teilen zu bewahren, mehr noch, sie erlaubt einen einmaligen Einblick in die Heteroglossie eines lebendigen Französisch, sie lässt Worte in ihrer Vieldeutigkeit funkeln, ohne dass sich ihr Sinn in endlosem Spiel verlöre, ohne dass der Erzählerin je die Kontrolle entzogen würde, über all das, was sie sagen will.

Wenn eine Übersetzung so meisterhaft gelingt wie hier, dann wird uns Lesenden wieder bewusst, dass zwei Sprachen nicht aneinandergrenzen, dass man nicht von einem ins andere Land übersetzt, dass das Bild der Brücke fürs Übersetzen zu sehr von zwei getrennten (Sprach)welten ausgeht. Sprachen grenzen nicht aneinander, sie sind ineinander gefaltet.

Im Gespräch nach der Preisübergabe wies de Malafosse darauf hin, dass sie sich wegen der Beschränkungen durch die Pandemie nicht während der Übersetzung persönlich mit der Autorin treffen konnte. Stattdessen habe man aber viel per E-Mail korrespondiert.

Sprachlich nicht unbedingt ein Genuss, aber inhaltlich voll im Trend

Wer Literatur konsumiert, um sich an stilistisch formvollendeten Sprachkunstwerken zu ergötzen, wird wahrscheinlich wenig Freude an dem Buch haben. Die Jury erläutert zwar: „Die Rhythmik, die Wiederholungen, die magischen Aufladungen einzelner Worte lässt die Surenstruktur des Korans, arabische Gegenwartslyrik und Rap anklingen.“ Aber erste Rezensionen vermitteln ein zwiespältiges Bild:

Die taz spricht von einer „gebetsmühlenartigen, fragmentarischen Textstruktur“. Laut FAZ schreibt Daas „antilinear und fragmentiert“. Der Tagesspiegel bezeichnet den Text als „literarischen Rap“ und die Deutsche Welle urteilt: „Die Sätze sind knapp, klingen manchmal wie dahingespuckt.“ Das mag als Stilmittel mit der Zerrissenheit der Protagonistin korrespondieren, klingt aber nicht nach einem ästhetischen Hochgenuss.

Und so könnte das Werk vor allem deshalb ausgewählt worden sein, weil es inhaltlich den Zeitgeist atmet: Identitätsfragen, Migrationshintergrund, Alltagsrassismus, intersektionaler Feminismus, Queerness, Islam, Behinderung durch Krankheit (hier Asthma) – eine Mischung wie aus dem Katechismus der religion of wokeness.

Zwar greift der Roman drängende Fragen der Zeit auf, aber es bestehen doch – zumindest nach einem Blick in die vom Verlag bereitgestellte Leseprobe – durchaus Zweifel an dessen literarischer Qualität. Aber Fatima Daas ist mit 26 Jahren noch jung und ebenso lern- wie entwicklungsfähig.

Schön ist auf alle Fälle, dass durch die Preisverleihung Nachwuchstalente gefördert werden – sowohl ein schriftstellerisches als auch ein übersetzerisches.

Bibliografische Angaben

  • Fatima Daas (2021): Die jüngste Tochter (La petite dernière). Berlin: Claassen (Ullstein). 192 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3546100243.
Haus der Kulturen der Welt
Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) hat seinen Sitz in der 1957 erbauten ehemaligen Berliner Kongresshalle („Schwangere Auster“). Gemeinsam mit der Hamburger Stiftung Elementarteilchen wurde 2009 der Internationale Literaturpreis geschaffen. – Bild: Farbkontrast, CC BY 3.0

Über den Internationalen Literaturpreis

Seit 2009 verleihen das Haus der Kulturen der Welt und die Stiftung Elementarteilchen den Internationalen Literaturpreis. Von der Gesamtdotierung von 35.000 Euro gehen 20.000 Euro an den Autor, 15.000 Euro an den Übersetzer. Ausgezeichnet wird ein herausragendes Werk der internationalen Gegenwartsliteratur und seine Erstübersetzung ins Deutsche.

Verlage, die internationale Erzählliteratur in deutscher Übersetzung publizieren, können ihre Titel für die Auszeichnung vorschlagen. Aus allen Einsendungen ermittelt eine unabhängige Jury in einem mehrstufigen Verfahren zunächst eine Shortlist aus sechs Titeln und in einem zweiten Schritt die Preisträger. Für die Nominierung zur Shortlist erhalten alle anderen Autoren und Übersetzer jeweils 1.000 Euro.

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Richard Schneider