Ruth Reiher: Klischees und Wahrheit über die Sprache in der DDR

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Bild: gemeinfrei

Die in der DDR verwendete Sprache war eine eigenständige Variante des Deutschen. Neben offiziellen Schablonen bestand sie aus einer lebendigen Alltagssprache. Das sagt Ruth Reiher, emeritierte Professorin des Instituts für deutsche Sprache und Linguistik an der Berliner Humboldt-Universität. Ihre Ansicht führt sie in dem folgenden Beitrag näher aus, der zuerst am 28. September 2021 in der Berliner Zeitung erschienen ist.

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Klischees und Wahrheit über die Sprache in der DDR

Wird heute, mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR, über deren Sprache gesprochen, was selten genug geschieht, dann werden wieder und wieder die gleichen Stereotype herangezogen, die kennzeichnend waren für den offiziellen Sprachgebrauch.

Nominale Wendungen des Typs „Auf der Grundlage der Richtlinie zur Verleihung von Namen an Einrichtungen …“ wechselten mit Doppelungen wie „Stärke und Unbesiegbarkeit“. Die substantivischen -ung-Bildungen wie „Die Vorbereitung und Durchführung dieser Überprüfung“ häuften sich. Schmückende Beifügungen wie „feste und unverbrüchliche Freundschaft“ oder „gewaltige Verteidigungskraft“ führten zu Pathos, zu einer gespreizten Ausdrucksweise, der jede Individualität fehlte. Hyperkorrekte Bezeichnungen wie „Kandidat des Politbüros, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR“ wurden nicht nur für öffentliche Personen verwendet. Sie fanden auch Eingang in viele Berufsbezeichnungen. So wurde aus dem „Müller “der „Facharbeiter für die Be- und Verarbeitung von Körnern und Hülsenfrüchten“.

Diese offizielle Sprache war in zahlreichen Texten unterschiedlicher Couleur wie Urkunden, Kondolenzschreiben oder Beurteilungen zu finden. Ja, selbst in Textsorten, die von Natur aus unideologisch sind, trat sie auf. Dem Kochbuch „Wir kochen gut“ aus dem Jahr 1962 wurde „eine starke Verbreitung … für eine glückliche Zukunft unseres Volkes im Rahmen der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ gewünscht. Die Straßenverkehrsordnung von 1977 stellte ihr Anliegen in Zusammenhang mit „der weiteren Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft“.

Geübt im Überlesen und Überhören

Diese Floskeln verfehlten mit Sicherheit ihre Wirkung. Wer ein Kochbuch zur Hand nahm, suchte nach Rezepten für Pflaumenkuchen oder Rinderbraten. Die Leser der Straßenverkehrsordnung wollten sich die Verkehrsregeln aneignen. Ich selbst wurde erst auf diese Formulierungen aufmerksam, als ich Anfang der 1990er-Jahre nach alltagssprachlichen DDR-Texten suchte.

Das Überlesen und Überhören dieser und ähnlicher Allgemeinplätze war – neben der Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens – eine typische Rezeptionshaltung des DDR-Bürgers. Wer ausschließlich die offiziellen Verlautbarungen in Tageszeitungen wie „Neues Deutschland“, der „Aktuellen Kamera“ oder andere politische Informationen als Datengrundlage zur Verfügung hatte, musste den hier verwendeten Stil als typischen DDR-Sprachgebrauch empfinden. Allerdings gab es bereits zu DDR-Zeiten zahlreiche Stimmen, die sich mit dieser Art zu schreiben und zu sprechen kritisch auseinandersetzten.

So etwa der Schriftsteller Stefan Heym, der diese Form der Sprache in Bezug auf die „Aktuelle Kamera“ des Jahres 1976 als „Hoch-DDRsch“ charakterisierte, „gepflegt bürokratisch, voll hochtönender Substantive, die mit entsprechenden Adjektiven verbrämt werden“. Oder denken wir an die zahlreichen Kabarett-Beiträge der „Distel“ sowie der „Leipziger Pfeffermühle“ zu derartigen sprachlichen Irrwegen. Ob der „VEB Erdmöbel“ und die „Jahresendflügelfigur“ solchen satirischen Gags oder gar dem Volksmund entstammten, ist bis heute umstritten.

Die Fixierung auf den offiziellen Sprachgebrauch wird der Komplexität und Differenziertheit der in der DDR verwendeten Sprache nicht gerecht. Die Sprache in der DDR war eine Sprachvariante des Deutschen, eine natürliche Sprache mit regionalen, sozialen, situativen, institutionellen und anderen Unterschieden.

Das Land der Dorfakademien und Frauensonderklassen

Auf Grund anderer gesellschaftlicher Bedingungen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entwickelte sie eigene Formen, die nahezu alle Ebenen betrafen. Neben einem ausgeprägten Wortschatz waren das eigene Textsorten und Redewendungen, besondere Stilmittel bis hin zu einem charakteristischen Sprachverhalten. Dass die meisten dieser sprachlichen Charakteristika die Wende nicht überlebt haben, ergibt sich aus der Form der deutschen Vereinigung, die der Linguist Peter Eisenberg in dieser Zeitung mit Recht als „Übernahme des Ostens durch den Westen“ bezeichnet hat.

Am auffälligsten und am meisten untersucht sind die lexikalischen Neuerungen, mit denen die gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem ihre Institutionen benannt wurden. Dabei fallen – entsprechend der Ideologie des Staates DDR – besonders Lexeme oder ganze Wortgruppen mit „Volk“ und „Arbeiter“ auf. So wurde das Parlament „Volkskammer“, der nicht privatwirtschaftlich betriebene Betrieb „Volkseigener Betrieb“ (VEB) und die militärische Macht „Nationale Volksarmee“ (NVA) genannt. An einigen Universitäten gab es die „Arbeiter- und Bauernfakultät“ (ABF), auf dem Land die „Dorfakademie“. Die „Frauensonderklasse“ sollte den Frauen die Weiterbildung erleichtern.

Aber auch viele andere Institutionen und neue Bereiche mussten benannt werden. So der „Neuerer“, der einen „Neuerervorschlag“ unterbreitet hatte, der „Betriebskollektivvertrag“ (BKV), der zwischen der Betriebsgewerkschaftsleitung und der Betriebsleitung geschlossen wurde. Überhaupt war der Volkseigene Betrieb der Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Lebens und damit wesentliches Zentrum des Kommunizierens. Er war nicht nur Ort der Arbeit. Zu seinen Aufgaben gehörte auch, ein Erholungswesen und ein Betriebsgesundheitswesen aufzubauen, die Beschäftigten bei der Wohnraumvergabe und der Unterbringung der Kinder zu unterstützen, kulturelle und sportliche Aktivitäten zu initiieren.

Alltag in den Brigadetagebüchern

Mit Sicherheit resultierten diese Aktivitäten auch aus einer sozialen Wunschvorstellung sowie aus der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft. Sprachlich bedeutete es allerdings, dass all das Neue benannt werden musste. Und so entstanden mit dem Bestimmungswort „Betrieb“ zusammengesetzte Wörter wie „Betriebsferienheim, -kindergarten, -poliklinik, -konsum“, darüber hinaus Weiterbildungseinrichtungen wie „Betriebsberufsschule“, sportliche sowie kulturelle Vereinigungen und Veranstaltungen: „Betriebssportgemeinschaft (BSG), -festspiele“. Selbst Recht wurde in den Betrieben gesprochen, nun aber nicht mit dem Wort „Betrieb“ verbunden, sondern als „Konfliktkommission“ bezeichnet. Diese Wortbildungen und viele andere verfolgten nicht das Ziel ideologischer Abgrenzung, sie waren notwendiger Bestandteil des Kommunizierens.

Zum betrieblichen Alltag gehörten auch die „Brigadetagebücher“. Sie entwickelten sich seit Ende 1959 und wurden bis 1989 geführt. Da ein „Brigadetagebuch“ mindestens seit den 1970er Jahren Voraussetzung für die Verleihung des mit Prämien verbundenen Titels „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ war und es im Jahr 1988 ungefähr 310.000 solcher Kollektive gab, müssen Tausende dieser Sprachzeugnisse angefertigt worden sein. Sprachlich ausgewertet wurden sie bislang kaum.

Das ist schade. Denn diese Tagebücher enthalten nicht nur Beiträge zu gesellschaftlichen Anlässen und zur Arbeitsweise der Brigade, wobei hier gern auf offizielle Statistiken, Rechenschaftsberichte oder Zeitungsartikel zurückgegriffen wird. Einen großen Raum nehmen Freizeiterlebnisse wie Brigadeausflüge oder Theaterbesuche ein. Persönliche oder familiäre Ereignisse einzelner Brigademitglieder, seien es runde Geburtstage oder die Jugendweihe der Kinder, finden umfänglich Platz. Zumeist wird über diese Geschehnisse sachlich berichtet. Zugleich ist erstaunlich, wie viele der Schreiberinnen und Schreiber, die sonst kaum zur Feder gegriffen hätten, versuchten, ihre Erlebnisse, Beobachtungen, Gedanken und Gefühle stilvoll in Worte zu fassen.

Liberal gegenüber Umgangssprachen und Dialekt

In allen Texten und Gesprächen spiegelten sich die einer natürlichen Sprache innewohnenden Differenzierungen wider. Entsprechend dem Bildungsgrad, der sozialen Stellung oder auch der Situation wurde anders gesprochen und geschrieben. So war die wissenschaftliche Auseinandersetzung eines Akademikers nicht vergleichbar mit seinem Gespräch über den Gartenzaun. Tischgespräche in Dresden unterschieden sich von denen in Suhl oder Rostock. Dennoch fiel eine Gemeinsamkeit ins Auge: Das war die liberalere Haltung gegenüber sprachlichen Formen, die außerhalb der Hochsprache existieren. Das sind neben den Dialekten vor allem die regionalen Umgangssprachen.

Zwar wurde die Beherrschung der Hochsprache in allen bildungspolitischen Dokumenten als Ziel proklamiert, in der Schule wurde sie vermittelt. Dennoch beherrschten die Umgangssprachen nicht nur die private, sondern zum großen Teil auch die mündliche öffentliche Kommunikation. Gespräche auf Ämtern, ja selbst Diskussionen in der Schule oder an Universitäten waren mehr oder minder stark durch umgangssprachliche Elemente geprägt. Das alles traf auch auf den östlichen Teil Berlins zu. Infolge seiner Hauptstadtfunktion fand hier eine Durchmischung der Bevölkerung aus der ganzen Republik statt. All diese Menschen brachten ihre dialektalen und umgangssprachlichen Besonderheiten mit und mussten eine gemeinschaftliche Verständigungsbasis finden.

Hinzu kam, dass die sozialen Beziehungen in Berlin wie auch in der gesamten DDR nicht vordergründig nach hierarchischen Prinzipien organisiert waren. Unabhängig von der sozialen Stellung wohnte und arbeitete man zusammen, man ging zum selben Arzt, die Kinder besuchten dieselbe Schule – man lebte miteinander und nicht nach Statusgruppen getrennt. Folglich redete man auch auf einer gemeinsamen sprachlichen Basis miteinander.

Das war in Berlin und Umgebung die regionale Umgangssprache Berlinisch. Ob nun stark oder leicht berlinert wurde, hing von sozialen oder situativen Faktoren ab. Einen gesellschaftlichen Nährboden für die Stigmatisierung des Berlinischen gab es nicht. Im Gegenteil, noch am 16. April 1993 stellte Detlef Friedrich in dieser Zeitung fest: „Im Pausenkeller des Deutschen Theaters kann man ungeniertes, schönes Berlinisch hören wie auf der Schönhauser.“

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