Das Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung stellt am 12. März 1909 seinen Leserinnen in der Zeitungsbeilage „Frauen-Rundschau“ die erste in Paris zugelassene Gerichtsdolmetscherin vor.
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Der erste weibliche Dolmetscher am Pariser Gericht.
Dieser Tage ist Madame Cighera auf ihren Antrag als erster weiblicher Dolmetscher bei den Pariser Gerichten zugelassen und vereidet worden. Die Dame bringt gewissermaßen schon von Hause aus die notwendigen Vorbedingungen für diesen Beruf mit, da sie aus einer polyglotten Familie stammt.
Ihr Vater war englischer Konsul, der außer seiner Muttersprache noch drei fremde Sprachen vollständig beherrschte. Die Mutter war eine Deutsche und der Mann der neuen gerichtlichen Beamtin stammt aus Italien.
Frau Cighera selbst lebt seit mehreren Jahren in Paris und hat das französische Bürgerrecht erworben. Außerdem ist eine ihrer Schwestern an einen Spanier und eine andere an einen Norweger verheiratet.
Die Sprachen aller dieser Nationalitäten beherrscht die Dame mündlich und schriftlich und hat außerdem durch Selbststudium eine genügende Kenntnis von den Hauptbestimmungen des französischen Zivil- und Strafrechtes erlangt.
Sie mußte jedoch mehrmals an den Justizminister petitionieren, um als Dolmetscher zugelassen zu werden, bis dann endlich nach einem eingehenden Examen die Berufung erfolgte.
„Ich kam mir bisher so nutzlos vor“, erklärte Madame Cighera einem Interviewer. „Mein Leben schien mir leer und fade. Jetzt atme ich ordentlich auf, weil ich weiß, daß auch ich als Frau etwas für die Allgemeinheit tun kann.“
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Der Justizminister, der den Bittschriften von Frau Cighera nachgab, war übrigens kein Geringerer als Aristide Briand, der vom 4. Januar 1908 bis 24. Juli 1909 das Amt des Justizministers ausübte.
Briand prägte nach dem Ersten Weltkrieg die Außenpolitik Frankreichs und wurde 1926 gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Gustav Stresemann mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Richard Schneider