Schon 1929 nachweislich keine „Überfremdung“ der deutschen Literatur durch Übersetzungen

Vorwärts
Bild: Deutsche Digitale Bibliothek, Deutsches Zeitungsportal

Im sozialdemokratischen Vorwärts vom 23. März 1929 lesen wir auf Seite 9 in der Beilage „Unterhaltung und Wissen“ (zusätzliche Absätze zur besseren Online-Lesbarkeit hinzugefügt):

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„Ueberfremdung“ der deutschen Literatur

Dem Deutschen ist von jeher ein besonderer Hang zum Fremden vorgeworfen worden, und auch in unserer Zeit tauchen wieder die Klagen auf, daß wir die eigenen Werte um der ausländischen willen vernachlässigen.

Auf dem Gebiete der Literatur hat man das Ueberhandnehmen der Uebersetzungen bedauert, aber nach den statistischen Uebersichten über das Uebersetzungswesen, die Dr. August von Löwis of Menar im Buchhändler-Börsenblatt veröffentlicht, treffen diese Vorwürfe nicht zu.

Bei einem Vergleich der Uebersetzungen aus dem Deutschen und ins Deutsche für das Jahr 1927 ergibt sich, daß unsere Ausfuhrbilanz nur England, Frankreich, Dänemark und Norwegen gegenüber passiv ist, denn hier stehen allerdings 217 Uebersetzungen aus dem Deutschen 585 Uebertragungen ins Deutsche gegenüber, doch sonst ist Deutschland der gebende Teil.

Aus den anderen Ländern, die Vereinigten Staaten eingeschlossen, wurden nur 388 Werke übertragen, während 1404 deutsche Bücher in die Sprachen dieser Länder übersetzt wurden. Im ganzen wurden 648 Werke mehr aus dem Deutschen als ins Deutsche übersetzt.

Am zahlreichsten sind die Uebersetzungen ins Deutsche aus der schönen Literatur, und zwar besonders aus dem Englischen und Französischen.

Aber auch da zeigt sich, daß nur einige wenige fremde Schriftsteller bevorzugt werden: so erscheint Jack London mit 22 Ausgaben, Shakespeare mit ebensoviel, R. L. Stevensohn [sic!] mit 20, Dickens mit 16, Edgar Wallace mit 15, Oscar Wilde mit 11, Shaw mit 9 Ausgaben.

Von französischen Dichtern steht der ältere Dumas mit 22 Ausgaben an der Spitze, es folgen Zola mit 21, Balzac mit 8, M. Leblanc mit 6, Romain Rolland, Maupassant und Colette mit je 5 Ausgaben.

Die „Ueberfremdung“ im Jahr 1927 gipfelte also in den Werken kaum eines halben Dutzends moderner ausländischer Schriftsteller; im ganzen aber überwiegen bei den Uebersetzungen die fremden Klassiker und Halbklassiker, deren Uebertragung frei ist. Von den 5066 Neuerscheinungen auf dem Gebiet der schönen Literatur waren nur 689 Uebersetzungen, also 13,6 Prozent.

Unter den deutschen Uebersetzungen in fremde Sprachen steht Rußland an der Spitze, das hauptsächlich wissenschaftliche Werke übernimmt; an zweiter Stelle stehen Großbritannien und die Vereinigten Staaten; Japan, das den dritten Platz einnimmt, übersetzt neben staats- und sozialwissenschaftlichen Schriften hauptsächlich Werke der schönen Literatur. Das niederländisch-flämische Sprachgebiet bevorzugt Belletristik und Italien philosophisch-pädagogische Literatur.

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Übersetzungsanteil seit 100 Jahren bei 13 Prozent?

Der Anteil der Übersetzungen an den Erstauflagen aller Genres belief sich 2021 auf exakt 13,6 Prozent. Das ist derselbe Wert, der 1929 für das Genre Belletristik ermittelt wurde.

Zwar bilden diese zwei Datenpunkte noch keine aussagekräftige Kurve, aber zumindest scheint sich der Übersetzungsanteil nicht – wie man hätte vermuten können – im Lauf von 100 Jahren vervielfacht zu haben.

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Richard Schneider