Die Journalisten Sebastian Pertsch (Berlin) und Udo Stiehl (Köln), Betreiber des sprachkritischen Projekts Floskelwolke, haben ihre „Floskeln des Jahres“ 2022 bekannt gegeben. Aus Vorschlägen und eigenen Beobachtungen wurden diejenigen Kandidaten ausgewählt, die nach Ansicht der Initiatoren im abgelaufenen Jahr besonders für Stirnrunzeln und Kopfschütteln gesorgt haben.
Auf Platz 1 steht demnach der Begriff „Freiheit“. Auf den Rängen danach landen „Sozialtourismus“, „technologieoffen“, „Klimakleber“ und „Doppel-Wumms“.
Die Begründung im Wortlaut:
1. Freiheit
Ich, ich, ich! Der Freiheitsbegriff wird entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichtslos demokratische Gesellschaftsstrukturen unterwandern. Im Namen der Freiheit verkehren sie selbstgerecht und unsolidarisch die essenziellen Werte eines Sozialstaates ins Gegenteil – alles für den eigenen Vorteil.
2. Sozialtourismus
Der Begriff suggeriert, dass Einwander*innen vor allem wegen Sozialleistungen kämen. Rechtslastiger Populismus in der Union hat Tradition. Schließlich war sie es vor zehn Jahren, die dem „Sozialtourismus“ zum „Unwort des Jahres“ verhalf – und die zynische Wortwahl auch im vergangenen Jahr pflegte.
3. technologieoffen
Auf altbackene Techniken beharren und unwirtschaftliche Ideen aus der Glaskugel anpreisen. Nach allen Seiten offen und modern zu erscheinen, ist sprachlicher Nebelkerzenweitwurf bei marktwirtschaftlicher Sturheit. Wissenschaftlich valide Konzepte verblassen im Dunst dieser scheinbaren Offenheit.
4. Klimakleber
Einprägsame Alliteration, die an Verächtlichkeit kaum zu überbieten ist. Ein knappes Sprachetikett für Menschen, die ungeachtet ihrer Ziele auf die Protestform reduziert werden. Auch die Etikettierer*innen aus Boulevard und Politik schreien nach Aufmerksamkeit, haben aber nur selten Gegenargumente.
5. Doppel-Wumms
Die zweite Auflage der „Bazooka“ liegt auf dem Tisch, doppelt munitioniert mit Subventionen für Energiekonzerne und Verbraucher*innen. Der „Wumms“ aus dem Doppellauf der Büchse kostet so viel, dass er wohl nur noch lautmalerisch vermittelbar ist. Wir erwarten weitere „Piff-, Paff- und Puff“-Gesetze!
Die Anzahl der qualifizierten Vorschläge für das Jahr 2022 sei im Vergleich zum Vorjahr ähnlich hoch gewesen. Mehr als 70 Begriffe und Formulierungen seien eingereicht worden. Neben den fünf Spitzenreitern seien unter anderem die ebenfalls preiswürdigen Formulierungen „Zeitenwende“, „Wertegemeinschaft“, „Corona-Pause“, „Immunschuld“ und „Resilienz“ darunter gewesen.
Die „Floskel des Jahres“ wurde zum dritten Mal verliehen. 2021 erhielt „Eigenverantwortung“ den Negativpreis, im Jahr 2020 schaffte es „Einzelfälle“ auf den ersten Platz.
„Freiheit“ durch Überstrapazierung zur Floskel verkommen?
Verbale Provokationen, fragwürdige Begriffe, ausgeleierte Floskeln und geframte Phrasen hätten die Nachrichtenberichterstattung auch im vergangenen Jahr geprägt, so Stiehl und Pertsch. Besonderes Augenmerk hätten dabei erneut Ausdrücke zur Pandemie und Klimapolitik verdient, aber auch zur Energiekrise. Die teils gezielt in den medialen Umlauf gebrachten Wörter seien von den Medien oft distanzlos übernommen worden.
Allgemein habe die Wortwahl an Schärfe zugelegt – analog zum Diskurs, der zunehmend von Schwarz-weiß-Argumentationen geprägt sei. Framing und Begriffskaperungen seien alltäglich und würden gezielt eingesetzt.
Udo Stiehl erläutert:
Wir beobachten, wie sich ein zunehmend aggressiver Umgang miteinander in der Gesellschaft in der Sprache widerspiegelt. Verächtliche Formulierungen werden wie Verbalkeulen geschwungen, was wiederum eine durchaus angestrebte Provokation zur Folge hat. Differenzierte Diskussionen werden durch Lautstärke und Schlagwörter überlagert.
Das macht auch nicht Halt vor der Umdeutung eines hoch angesehenen Guts wie Freiheit, in deren Namen inzwischen egoistische Forderungen gestellt werden oder absurde Preisungen von z. B. Atomkraft als „Freiheitsenergie“ entstehen. Gegnerische Positionen in verächtlicher Form zu betiteln hat auf vielen Ebenen Einzug gehalten.
Sebastian Pertsch fügt hinzu:
Dass rechtskonservative bis rechtsextreme Kreise Begriffe und Formulierungen kapern und zweckentfremden, ist sicherlich nichts Neues. Die Mechanismen dahinter, die auch zu einer gewissen Verrohung in der Gesellschaft führen, sind schließlich bekannt.
Verblüffend und erschreckend zugleich ist allerdings, wie schnell journalistische Medien diese Begriffskaperungen und Framings ohne nötige Einordnung verbreiten und wie effizient diese toxischen Gesinnungen in die Gesellschaft einmassiert werden können.
Udo Stiehl:
Fast wie ein Schimpfwort mutet die Bezeichnung „Klimakleber“ an. Und die Lautmalerei lebt wieder auf.
War es zunächst noch die „Bazooka“, die aus der Hand des einstigen Finanzministers Scholz mit Milliarden schoss, um in der Pandemie z. B. Kurzarbeit zu finanzieren, legt der SPD-Politiker inzwischen als Bundeskanzler zum „Doppel-Wumms“ an. Natürlich fällt einem führenden Politiker so etwas nicht spontan ein, das sticht so heraus, dass von vorneherein klar war, dass es überall als Zitat und als O-Ton läuft.
Genauso funktioniert das auch mit den versteckten Botschaften. Wenn sich die FDP als „technologieoffen“ bezeichnet, kommt man erst einmal nicht darauf, dass damit sowohl „E-Fuels“ gemeint sind, die bislang als unwirtschaftlich gelten, und zugleich die alte Technik der Kernkraft weiterbetrieben werden sollte.
Viel schlimmer aber ist der offenbar ungebrochene Drang, mit Komposita den Populismus anzuheizen, wie es mit dem Konstrukt „Sozialtourismus“ gemacht wurde. Schon 2013 wurde es zum „Unwort des Jahres“ gekürt. Damals hatten die Unionsparteien den Begriff in Umlauf gebracht. Und da kaufe ich es einem CDU-Vorsitzendenden nicht ab, „es nicht so gemeint“ zu haben, wenn er den Begriff 2022 wieder aus der Versenkung holt.
Sebastian Pertsch:
Nachdem wir vor einem Jahr die „Eigenverantwortung“ zur Floskel des Jahres 2021 kürten, folgte ein tagelanger Shitstorm rechtslibertärer Aktivist*innen, zu denen sich selbst ein Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung und ein Bundesminister, wenn auch ziemlich ahnungslos, gesellten.
Obwohl wir in der Begründung ausdrücklich schrieben, dass Eigenverantwortung „ein legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung“ sei und nur die Kaperung zugunsten von Egoismus das eigentliche Problem darstellte, wurde diese Information beim sinnlosen Aufpeitschen weggelassen. Das war schon beeindruckend.
Mitte Januar 2022 twitterte ich: „Ich glaube, wenn wir kommendes Jahr #Freiheit als #FloskelDesJahres 2022 wählen sollten, würde Twitter implodieren.“ Ich hatte gehofft, unrecht zu behalten – und zwar mit beidem. Leider übertraf der verbale Missbrauch des Freiheitsbegriffs alle Erwartungen und er ist ein verdienter Sieger dieses Negativpreises. Und er schlägt in die gleiche unangenehme Kerbe wie die „Eigenverantwortung“, die auch mehrfach für 2022 vorgeschlagen worden war.
Dabei sind „Eigenverantwortung“ und „Freiheit“ nicht Gegenstand der Kritik und sicherlich auch keine hohlen Phrasen, sondern nur deren egoistische Fehldeutungen lassen sie zur Floskel verkommen.
Über den Negativpreis „Floskel des Jahres“
Die Floskelwolke von Udo Stiehl und Sebastian Pertsch ist ein am 11. August 2014 gestartetes sprach- und medienkritisches Webprojekt, das dem professionellen Nachrichtengeschäft den Spiegel vorhalten will. Kritisiert werden Floskeln, Phrasen und weitere fragwürdige Formulierungen in deutschsprachigen Nachrichtentexten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Dabei betonen die Macher, dass sie nicht anprangern, sondern sensibilisieren möchten. Nicht alle Floskeln seien schlimm und Sprache lebe auch von Bildern. Kritisiert würden Formulierungen vor allem dann, wenn sie nicht nur überflüssig, hässlich und langweilig seien, sondern falsche Bilder erzeugten oder Informationen verschleierten.
Das unter floskelwolke.de einsehbare Webprojekt ist werbefrei, unabhängig, für die Leser kostenfrei und wird ehrenamtlich betrieben. Es wird von den Machern privat finanziert, Sponsoren gibt es nicht.
Heftiger Widerspruch von FDP und konservativem Lager
Die Entscheidung, den Begriff Freiheit zur „Floskel des Jahres“ zu küren, blieb wie zu erwarten nicht ohne Gegenrede. Auf Twitter reagierten hochrangige Politiker der FDP umgehend, darunter auch der Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann.
Martin Hagen, Fraktionsvorsitzender der FDP im Bayerischen Landtag, Vorsitzender der FDP in Bayern und Mitglied des FDP-Bundesvorstands konterte:
Der Versuch, die #Freiheit zu diskreditieren, geht in die nächste Runde: Erst wurde sie zum Fetisch erklärt, nun zur Floskel. In Wahrheit ist sie das höchste Gut, der fundamentale Wert unserer Verfassung, die Grundlage einer lebenswerten Gesellschaft.
Und Linda Teuteberg, ebenfalls im FDP-Bundesvorstand und Bundestagsabgeordnete, bemerkte:
#Freiheit ist weder Floskel noch vulgär oder selbstverständlich, sie ist system- und existenzrelevant!
Was die Freiheitsverächter verkennen: Freiheit ist nach unserer Verfassung gerade Ausfluss und nicht etwa Einschränkung der Menschenwürde.
Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, sprach im Nachrichtensender der Mediengruppe von einem „Kulturkampf“, der hier ausgefochten werde. Das Milieu der „Macher*innen“ verachte die Freiheit. Aktionen wie diese seien der Versuch, grundlegende „Begriffe wie Freiheit und Eigenverantwortung zu delegitimieren und zu dekonstruieren“.
Richard Schneider