Im Unterhaltungsblatt der Badischen Presse vom 18. Januar 1908 findet sich eine Einführung ins Rotwelsche. Darin wird ausführlich Bezug genommen auf das 1906 erschienene Wörterbuch Die Gaunersprache von Ernst Rabben, der als Kommissar in Hamm in Westfalen wirkte.
Nachfolgend der namentlich nicht gekennzeichnete Zeitungsartikel im Wortlaut (Zwischenüberschriften und zusätzliche Absatzeinteilungen eingefügt):
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Die Gaunersprache.
Eine eigenartige Sprache ist das Rotwelsch, die sogen. Gaunersprache, die mehr oder minder in allen Ländern von den umherstreifenden männlichen und weiblichen Vagabunden, den gewerbsmäßigen Verbrechern und ihrem Anhang, sowie von denen, die mit diesen Leuten zu tun haben, verstanden wird.
Eine Abart davon ist der Händlerjargon, der zunächst in den Viehhändlerkreisen heimisch, sodann aber auch vielen Budenbesitzern, die von einem Jahrmarkt zum andern ziehen, bekannt ist. Der Wortschatz ist verschieden, je nachdem für welche Kreise das betreffende Rotwelsch bestimmt ist, aber der Untergrund ist der gleiche.
Der Name „Rotwelsch“ setzt sich zusammen aus „rot“, was Bettler bedeutet, und „welsch“ = italienisch, im übertragenen Sinne „fremd“, das Wort bedeutet also die fremde Bettlersprache. Die Gauner selbst haben mehrere andere Ausdrücke dafür, so z. B. „Kochemer Loschen“ („Kochim“ = Gauner, Loschen = Sprache), „Chessen-Loschen“ (Chesse = Diebesherberge). „Kochemer Kohl“ („Kohl“ hebr. = Gerede) usw.
Auch Viehhändler, Sauerländer und Eisfelder benutzen Rotwelsch
Mit dem Gaunertum unlöslich verbunden ist das Rotwelsch nicht, es wird auch von durchaus ehrlichen Elementen gesprochen, so wollen doch z. B. die Viehhändler als solche betrachtet werden, und die Sauerländer und Eichsfelder, welche mit ihren Kiepen auf dem Rücken die Welt durchstreifen, sind durchweg brave Leute, denen man großes Unrecht tun würde, wenn man sie unter irgend eine Kategorie der Gauner einreihen wollte.
Aber auch sie reden ein gewisses Rotwelsch, das zum Teile eine besondere dialektische Umgestaltung erfahren hat. Von dem sauerländischen Rotwelsch, wie es im „Strunzerdahl“ gesprochen wird, hat uns bekanntlich Fr. W. Grimme in einer seiner von ebenso scharfer Beobachtung, wie von liebenswürdigem Humor eingegebenen Schriften über das Sauerland interessante Proben gegeben.
Vokabular aus dem Jiddischen, Grammatik aus dem Deutschen
Die Grundlage des Rotwelsch ist das Vulgärhebräische, das „Jiddische“, wie es sich während des Mittelalters als lebende Sprache entwickelte, die in ihrer Heimlichkeit noch besonders durch den Druck, der auf den Juden lastete, gefördert wurde.
Die grammatischen Formen, Deklination und Konjugation, sind im wesentlichen deutsch, trotzdem die Sprache selbst als ziemlich international anzusehen ist.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich das Rotwelsch auch in Deutschland entwickelt, und zwar scheint das zum Ausgang des Mittelalters der Fall gewesen zu sein und mit dem damaligen Auftreten des rätselhaften Volkes der Zigeuner zusammenzuhängen.
Zigeuner und umherstreifende Soldaten („Gordenbrüder“) waren schon zur Zeit Kaiser Karls V., also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, des Rotwelschen mächtig, damals war es also bereits ausgebildet, und 1528 erschien zu Wittenberg ein zweimal aufgelegtes Buch über die Gaunersprache „Von der falschen Bettlerbueberey“ mit Vorrede von M. Luther. Und hinden an ein Rotwelsch Vocabularius“.
M. Luther ist niemand anders als der bekannte Reformator und Meister der deutschen Sprache; dies Schriftchen dürfte das älteste sein, das über das Rotwelsch handelt und zugleich ein kleines Wörterbuch der bekanntesten Gaunerausdrücke gibt.
Seitdem hat sich eine zwar nicht sehr umfangreiche, aber doch immerhin nicht unbedeutende Literatur über die Gaunersprache und die in ihr niedergelegten Schriftwerke gebildet.
Kommissar schreibt Wörterbuch „aus der Praxis für die Praxis“
Aus neuester Zeit stammt ein treffliches Werk „Die Gaunersprache (chochum loschen), gesammelt und zusammengestellt aus der Praxis – für die Praxis von Ernst Rabben, Polizeikommissar in Hamm.“ (Verlag von Breer und Thiemann daselbst, Preis 2 M) hervor.
Der Verfasser hat sehr wenig Vorarbeiten für seine Schrift benutzen können; der Wissenschaftler dürfte vielleicht geneigt sein, darin von vornherein einen Mangel zu erblicken, indes kann ich einer solchen Ansicht nur bedingt beipflichten, denn auch so wie es ist, bildet das Buch eine recht wertvolle Bereicherung und Ergänzung der Literatur über diese eigenartige Erscheinung in der Sprachengeschichte und Volkskunde.
Wörterbuch „riecht nirgends nach Studierstube“
Was das Buch besonders wertvoll macht, ist, daß es aus der Praxis entstanden ist und nirgends nach der Studierstube riecht. Die Studien sind am „lebenden Modell“ gemacht, und deshalb sind sie urtümlich.
Ein weiteres Verdienst der Rabbenschen Schrift ist, daß sie den Wortschatz der Gaunersprache bis auf die neueste Zeit fortführt, es werden nämlich Jahr für Jahr neue Ausdrücke, die zumeist an bestimmte sensationelle Vorgänge anknüpfen, in den Wortschatz des Rotwelsch aufgenommen, eine Tatsache, die nicht bloß für den Sprachforscher und Folkloristen, sondern auch für den Kriminaljuristen und Polizeibeamten von Bedeutung ist.
Rotwelsch-Vokabular: von Aeffchen über Gannew und Stiegenratte bis Tochus
So ist z. B. aus neuerer Zeit „Bimmelstrippe“ für die Drähte an elektrischen Glocken, „Grillenberger“ für Gelehrte, „Heiligkeit“ für christliche Herberge, „Kasino von Robert und Bertram“ für Volksküche usw.
Das Gedankengebiet, auf dem sich die Gaunersprache bewegt, ist naturgemäß ziemlich enge begrenzt, aber innerhalb ihres eigentlichen Rayons ist sie von verblüffender Reichhaltigkeit und eine große Anzahl ursprünglich aus der Gaunersprache stammender Ausdrücke ist sozusagen Gemeingut geworden, so daß sie kaum einer Erklärung mehr bedürfen, z. B. ramschen, Bibi (Hut), Brand (Durst), kapores, Däz (Kopf), Flamme (Geliebte), Kabuffe (dunkle Kammer), Kaffer (dummer Mensch) usw.
Ein richtiger Gauner ist ein „dufter“ (geschickter) „Kunde“ oder ein „Kesser Brenner“, als Neuling ist er freilich ein „Aeffchen“, und wenn er sein „Geschäft“ nicht versteht, ist er ein „Linkmichel“. Natürlich ist er einem „Bal cholem“ (jemand, der die Gaunersprache kennt) gegenüber recht einsilbig, mit einem „Bauer“, der sich „beseibeln“ läßt, wird er um so leichter fertig, wie es überhaupt seine Aufgabe ist, den „Krauter“ (Bürger, speziell Handwerksmeister) zu „bedibbern“ (betrügen).
Für das letztere hat sein Lexikon überreiche Andrücke, er kann „befilzen“, „bemauscheln“, „belummern“, „bemeiern“, „bereißen“, „beschmieren“, „beschuppen“, „betuppen“ und noch vieles andere.
Die Zunft der „Langfinger“ teilt sich in eine enorm große Anzahl Branchen, die alle zum „Anfasser“-Gewerbe zählen.
Dem Wirte gegenüber macht man „baulos blede“, man geht nüt der Zeche durch, beim Kartenspiel ist man „Blütenstecher“, indem man falsche „Klamotten“ (Geld) ausgibt, oder „mogelt“ beim Wechseln als „Margediser“ oder, „Chalfer“.
Ist man zu mehreren als Falschspielergruppe, so bildet man „Cagnotte“ oder treibt als „Salatmacher“ das falsche Mischen der Karten, als „Fallenmacher“ redet man dem „Grünen“ zu, sich am Spiele zu beteiligen, zu dem Zwecke ist das „Kümmelblättchcn“ sehr beliebt, was aber mit Kümmel nichts zu tun hat, sondern von „gimel“, dem hebräischen Ausdruck für „drei“ sich herleitet, da es mit drei Karten gespielt wird.
Auf Märkten betreibt man als „Döpchenspieler“ das Geschäft eines „Freischuppers“, indem man dabei die „Ewils“ (dumme Leute) „betaspert“, um ihnen ihren „Draht“, „Kies“ oder „Nickerlinge“ abzunehmen, nur muß man aufpassen, daß man von den „Blauen“ (Polizisten) nicht „gekappt“ wird.
Als „Mauser“ kann man „sichte gehen“ (bei Nacht stehlen), dann ist man ein „Rattengänger“, als „Scheinlattchener“ geht man nur bei Tage, ein „Sonntagsnachmittagsding“ macht man, wenn man in Häusern stiehlt, aus dem die Bewohner ausgegangen sind; in den Abendstunden ist man „Achillesgänger“ oder „Grufgänger“, einen „guten Morgen wünscht“ man, wenn man sich früh in das Haus schleicht; als „Hinkelschieber“ oder „Tarchener“ sucht man Gelegenheit, in den Küchen etwas zu „klauen“, als „Kittenschieber“ oder „Stiegenratte“ schleicht man sich überhaupt in die Häuser ein; als „Leilegänger“ „arbeitet“ man nur bei Nacht.
Die Begabungen und Steigungen der einzelnen „Gannews“ (Diebe) sind verschieden. Der eine betätigt sich als „Flatterfahrer“(Wäschedieb), der andere als „Flauenfahrer“ (Bettdieb), wozu bcsondere Geschicklichkeit und Schlauheit gehört, dasselbe ist der Fall beim „Cheileszieher“ (Taschendieb), der sich deshalb vielfach vorsichtig nimmt, indem er jemand hat, der „dicke macht“, d. h. sich vor ihn stellt, und dem er das Gestohlene schnell zusteckt, um „die Sore kabohre zu legen“, das „Geganste“ sicher unterzubringen. Er wird auch wohl „Torfdrücker“ genannt, sein Gehilfe, der den „Freier macht“, ist dann der „Drängler“.
Als „Golegänger“ hat er es auf Kisten abgesehen, die er von Fracht- und Hotelwagen beseitigt; als „Kastenschieber“ leert er die Geldladen bei Kaufleuten, als „Mepper“ macht er auf Bahnhöfen sein Geschäft; das Gepäck der Reisenden auf Bahnhöfen „maust“ der „Tillisker“ oder „Ulenklemmer“; als „Trararagänger“ setzt er die Post in Kontribution; als „Lenatooschieber“ sucht er die Keller heim; Geschäftsräume bestiehlt der „Schautenzinker“; mit Nachschlüsseln arbeitet der „Kaffermarchene“; der „Chalof Gannew“ hat es auf Milchgefäße abgesehen, und der Liebhaber eines guten Stückes billigen Fleisches muß „Kärner sachern“, d. h. Metzgerläden bestehlen, wenn er es nicht vorzieht, als „Kaphans“ gleich das ganze Stück Vieh von der Weide oder aus dem Stalle zu stehlen; eine seltene und sonderbare Abart des letzteren ist der „Zefkenhans“, der Katzendieb, und als besondere Spezies betrachtet sich der „Jaskengannew“ oder Kirchendieb, sowie derjenige, welcher den „Gallach benscht“, vorzugsweise Geistliche bestiehlt.
Bei allen diesen verschiedenen Arbeiten ist aber notwendig, daß man „beize handelt“, d. h. vorsichtig vorgeht, sonst kann man „kaule“ oder „hoch“ gehen, „verschütt“ (verhaftet) werden, und wenn man im Besitze der „Sore“ oder des „Schänkzeugs“ (der Diebesgeräte) betroffen wird, sogar „treefe kaule“, und schließlich, wenn der „Krauter“ einen dabei „kappt“, und man nicht rechtzeitig „Leine ziehen“ (davonlaufen) kann, obendrein noch „Heichus“ oder „Mackes“ auf den „Tochus“ kriegen.
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Literatur
- Ernst Rabben (1906): Die Gaunersprache (chocum loschen). Gesammelt und zusammengestellt aus der Praxis – für die Praxis von Ernst Rabben, Polizei-Komissar in Hamm i. Westf. Hamm: Breer & Thiemann. 106 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich.
- Siegmund A. Wolf (1985): Wörterbuch des Rotwelschen: Deutsche Gaunersprache. Hamburg: Buske. 432 Seiten, 68,00 Euro, E-Book 34,99 Euro, ISBN 978-3871187360.
- Roland Girtler (2019): Rotwelsch: Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden. Köln: Böhlau. 3. Auflage, 278 Seiten, 19,00 Euro, ISBN 978-3205232414.
Richard Schneider
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