Der einzigartige Reichtum der spanischsprachigen Lyrik ist hierzulande nur ansatzweise bekannt. Die 2022 erschienene Anthologie Spanische und hispanoamerikanische Lyrik leistet Pionierarbeit: In vier Bänden stellt sie die Glanz- und Höhepunkte einer Tradition vor, die vom mittelalterlichen Al-Andalus bis heute und von Spanien über Mexiko bis nach Argentinien reicht – in exzellenten Übersetzungen und mit knappen, hilfreichen Kommentaren.
In der spanischsprachigen Literatur genießt die Lyrik ein besonderes Prestige. Das gilt für die volkstümliche Dichtung des Mittelalters nicht weniger als für die raffinierte Lyrik des spanischen Goldenen Zeitalters.
Mit der Emanzipation der lateinamerikanischen Länder vom alten kolonialen Zentrum brach im 19. Jahrhundert auch die Lyrik zu vielen neuen Ufern auf. Und diesseits wie jenseits des Atlantiks entwickelte die Lyrik in der Moderne eine unvergleichliche Kraft und Vielfalt.
Die zweisprachige Anthologie präsentiert diese unvergleichlich reiche Kultur in bisher nicht gekanntem Umfang. 900 Jahre poetischer Kultur in spanischer Sprache, dargestellt in ihrer historischen Tiefe von den Anfängen bis zur Gegenwart in der ganzen Breite jener transatlantischen Sprachwelt, die Spanien mit Hispanoamerika verbindet.
Gemeinschaftswerk von Literaturwissenschaft und Übersetzungskunst
Als Gemeinschaftswerk von Literaturwissenschaft und Übersetzungskunst erschließen die Bände sowohl die Klassiker der spanischsprachigen Dichtung als auch hierzulande noch wenig bekannte Traditionen und Formen. Von den Höhepunkten der mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und barocken Lyrik bis zu den hispanoamerikanischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus bis in unsere Zeit. Über 800 Gedichte von 200 Autoren und Autorinnen, ein Großteil davon in neuen, formbewussten Übersetzungen.
Die zweisprachige Anthologie präsentiert neben den Klassikern auch wunderbare Entdeckungen. Zwei Drittel der Gedichte wurden von herausragenden Übersetzern neu übersetzt. Die Kommentare führen in Leben und Werk der Autoren ein und geben Erläuterungen zu den Gedichten.
Jedem Band ist ein wissenschaftlicher Kommentar beigegeben, der mit einer Fülle von Informationen dabei hilft, die Texte in ihrem kulturellen und historischen Kontext zu verstehen.
Vermessung eines poetischen Kontinents
Diese Anthologie erschließt die spanischsprachige Lyrik in einer bislang nie erreichten historischen Tiefe und kulturellen Breite. Sie ist die Vermessung eines poetischen Kontinents.
Band 1: Von den Anfängen bis Fernando de Herrera
Der historische Radius dieses Bandes reicht vom Anfang des 12. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Vielfalt und Reichtum der lyrischen Kulturen des Mittelalters werden hier in eindrucksvollen Beispielen erfahrbar.
Ferner vermittelt Band 1 ein Bild vom Glanz der spanischen Renaissance, die so spektakuläre Höhepunkte hervorgebracht hat wie die höfische Dichtung von Garcilaso de la Vega oder die Liebesmystik des Johannes vom Kreuz.
Band 2: Von Luis de Góngora bis Rosalía de Castro
Im Umkreis epochaler Figuren wie Góngora, Lope de Vega und Quevedo erreicht die spanische Barockdichtung eine in Europa einzigartige Qualität und Komplexität. Sie bildet den Schwerpunkt von Band 2, dessen historischer Bogen jedoch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu Gustavo Adolfo Bécquer und Rosalía de Castro, reicht.
Auch die Dichtung aus den amerikanischen Kolonien sowie die ersten Stimmen der lateinamerikanischen Nationalliteraturen kommen hier zu Wort.
Band 3: Von José Martí bis Miguel Hernández
Beginnend mit den Gründungsfiguren José Martí und Rubén Darío versammelt Band 3 die Dichtung der klassischen Moderne und der Avantgarden, wobei er den Blick abwechselnd auf die hispanoamerikanischen und die spanischen Autorinnen und Autoren richtet, die zwischen Lima, Mexiko, Buenos Aires, Paris und Madrid ein dichtes Netz literarischer Beziehungen knüpften.
Das Ende des Spanischen Bürgerkriegs (1939) markiert auch das Ende dieser Hochkonjunktur der hispanischen Moderne.
Band 4: Von Rosa Chacel bis zur Gegenwart
Am Anfang von Band 4 steht die spanische Lyrik des Exils und der Daheimgebliebenen, die während und nach der bleiernen Franco-Zeit um den Anschluss an die internationale Moderne ringen.
In der Hauptsache aber widmet der Band sich jenem Kontinent der Lyrik, der im Lauf des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika entstanden ist – und dessen von vielfältigen kulturellen Einflüssen geprägte Sprach- und Bildwelten im deutschen Sprachraum noch immer wenig bekannt sind.
Bibliografische Angaben
- Martin von Koppenfels, Susanne Lange, Johanna Schumm, Petra Strien, Horst Weich (Hg., 2022): Spanische und hispanoamerikanische Lyrik. In vier Bänden, zweisprachig. München: C. H. Beck.
Gefördert u. a. von der C.-H.-Beck-Stiftung und dem Deutschen Übersetzerfonds. 2641 Seiten, 148,00 Euro (vier Bände im Schuber), ISBN 978-3-406-78350-0. Jeder Band ist auch einzeln für 45,00 Euro erhältlich. Auf Amazon ansehen/bestellen.
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