Kluge Wörter: Wie wir den Bildungswortschatz nutzen können – und wo seine Tücken liegen

Matthias Heine: Kluge Wörter
Bild: Duden

Der Kulturjournalist Matthias Heine nimmt uns in seinem jüngsten Buch mit auf eine Reise durch die Kulturgeschichte der Bildungssprache. Wörter wie Ambiguität, Chimäre, eruieren und genuin werden ausführlich erkläutert – in ihrer Geschichte, ihren aktuellen Verwendungsweisen und den damit verbundenen Fallen. Was ist problematisch an Narrativ und an Taxonomie und wann sind redundant oder latent passend einzusetzen?

Schwere Wörter – mots savants – inkpot words

Im Vorwort schreibt Heine:

Bis um 1900 war die Bildungssprache geprägt durch Syntax und Semantik der klassischen Literatur wie der idealistischen Philosophie. […] Nach 1900 gelangte allmählich der Wortschatz eines neuen Wissens in die Bildungssprache, das die alten Traditionen zum Teil radikal infrage stellte, Beispiele hierfür sind Darwins Evolutionstheorie (Selektion) und die Psychoanalyse (ödipal). Neue Wortschübe kommen seit den 1950er-Jahren aus der Lernpsychologie (elaboriert) und der Verhaltensforschung (Konditionierung) sowie in starkem Maße aus den Sozialwissenschaften (Habitus, Distinktion) und der Linguistik (redundant).

Daneben wird der Bildungswortschatz seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Wörter aus Naturwissenschaften und Technik in übertragener Verwendung verstärkt wie Quantensprung, Big Bang, Epizentrum, Lackmustest oder Transmissionsriemen. Zudem werden manchmal dem Englischen entlehnte Wörter wie Essentials oder Appeal dem modernen Bildungswortschatz zugerechnet; deren Status ist aber noch ungesichert. […]

Bildungssprache ist nicht ausschließlich durch die Verwendung bestimmter Wörter gekennzeichnet. Sie ist genauso geprägt von komplexer Satzstruktur, Nominalphrasen, Verbalabstrakta, verstärktem Gebrauch des Passivs und korrekter Beherrschung der Konjunktivformen zur bewussten Markierung von Sprachebenen. Das Wesen der Bildungssprache ist Schriftnähe; selbst mündliche Vorträge sind erkennbar oft schriftlich ausgearbeitet.

Bildungswortschatz

Das markanteste Kennzeichen der Bildungsspräche ist die Verwendung eines bestimmten Vokabulars. Gemeinsam ist den Wörtern des klassischen Bildungswortschatzes, dass sie sehr häufig dem sogenannten Eurolatein angehören – einem in vielen europäischen Sprachen ähnlich gearteten Repertoire lateinischer Wörter und lateinischer Wortbildungselemente. Darunter sind wiederum viele ursprünglich altgriechische Wörter, die aber in ihrer lateinischen Form und in lateinischer Schreibweise gebraucht werden. […]

[…] bildungssprachliche Wörter [werden] aus Prestigegründen oder in ideologischer Absicht zu bestimmten Zwecken missbraucht […]. Beispiele hierfür sind Imponiergehabe, Anzeigen des sozialen Aufstiegs sowie das Streben, Einstellungen des Gegenübers durch sprachliche Überrumpelung und Verschleierung zu beeinflussen.

Dieses Misstrauen gegenüber der Bildungssprache und gegenüber jedem, der kluge Wörter allzu häufig gebraucht, rührt von ihrer Exklusivität her. Denn Bildungssprache ist keineswegs jedem vertraut, der irgendeinen Bildungsgang abschließt, für den die Bildungspolitik und die Bildungsministerien zuständig sind. […]

Das Wort Bildungssprache bezeichnet […] keineswegs immer nur eine bestimmte Stilebene, Gruppensprache oder Varietät im Rahmen der inneren Mehrsprachigkeit, etwa des Deutschen. Vielmehr kann die Bildungssprache eines Landes oder eines Kulturkreises tatsächlich auch eine ganz andere Fremdsprache sein, die nur Eliten zur Kommunikation nutzen. So war Griechisch in der Antike die Bildungssprache der gesamten hellenistischen Welt. Dann diente Latein spätestens ab der sogenannten karolingischen Renaissance bis zur frühen Neuzeit als Bildungssprache Westeuropas. Und vom 17. bis zum 19. Jahrhundert War Französisch die Bildungssprache ganz Europas – man denke nur an die französischen Dialoge russischer Adeliger auf den ersten Seiten von Lew Tolstois »Krieg und Frieden«.

Englisch Bildungssprache oder nur profanes Werkzeug im Sprachalltag?

Ob dieser Status in der Gegenwart durch das Englische eingenommen wird, scheint mir zweifelhaft. Englisch zu können, ist heute eine ubiquitäre Fähigkeit wie Lesen und Schreiben, kein besonderes Bildungssignal. Es ist eine Lingua Franca, keine Bildungssprache.

Anglizismen werden trotz des Status, den Englisch als internationale Wissenschaftssprache einnimmt, von vielen sprachbewussten Menschen nicht als gebildet empfunden, sondern oft als lächerlich, wichtigtuerisch oder verschleiernd und geradezu dümmlich – vor allem, wenn sie sich unverhältnismäßig häufen wie in der Sprache der Werbung oder im Businessjargon. Anglizismen gelten nur dann als unbestreitbar »bildungssprachlich«, wenn sie – wie redundant, Narrativ oder dysfunktional – neu gebildete Fremdwörter auf Basis der klassischen Bildungssprachen Griechisch und Latein sind.

Einträge alphabetisch sortiert

Beispiele für im Buch behandelte Wörter sind: ab ovo, abundant, Adept, affirmativ, Ägide, Agonie, Ambiguität, Anathema, -ant, Antagonist, Apercu, Aplomb, apodiktisch, Apologet …

Diese werden vom Autor sehr viel ausführlicher beschrieben als dies in Bedeutungswörterbüchern der Fall ist.

Heine ist Kulturredakteur und publiziert regelmäßig zum Thema Sprache

Matthias Heine, 1961 in Kassel geboren, hat in Braunschweig Germanistische Linguistik, Literaturwissenschaft und Geschichte studiert. Er bearbeitete dort bei der 9. Auflage des „Deutschen Wörterbuchs“ von Hermann Paul die Buchstabenstrecken N, O, R und Teile des E. Seit 1992 ist er Journalist in Berlin, hat für verschiedene überregionale Tages-, Wochen- und Monatstitel geschrieben sowie Rundfunkbeiträge für den NDR und den SFB/RBB produziert. Seit 2010 ist er Kulturredakteur der Welt.

Bibliografische Angaben

Richard Schneider