Hessen bietet ab Herbst 2024 Ukrainisch als zweite Fremdsprache an Schulen an

Armin Schwarz
"Wir möchten den Jugendlichen und Lehrkräften aus der Ukraine eine stärkere Bildungs- und Berufsperspektive bieten. Auch für den Wiederaufbau ihrer Heimat", sagt der hessische Bildungsminister Armin Schwarz (CDU). - Bild: Ministerium

„Im Wettbewerb um zukünftige Fachkräfte und zur Gewinnung weiterer Lehrer unternimmt Hessen zum Schuljahr 2024/2025 einen deutschlandweit einmaligen Vorstoß und erweitert das breite schulische Fremdsprachenangebot um Ukrainisch“, verlautbart das hessische Bildungsministerium.

Dies erfolge mit Blick auf die große Gruppe der rund 20.000 mit ihren Familien vor dem Krieg nach Hessen geflüchteten und beschulten Schüler aus der Ukraine sowie auch im Hinblick auf die mehr als 300 ukrainischen Lehrkräfte, die derzeit an hessischen Schulen unterrichten.

Armin Schwarz (CDU), hessischer Minister für Kultus, Bildung und Chancen, erläutert die Beweggründe für das neue schulische Angebot:

Den vielen Jugendlichen und Lehrkräften aus der Ukraine möchten wir entsprechend ihren individuellen Begabungen damit noch stärkere Bildungs- und Berufsperspektiven bieten – auch für den Wiederaufbau ihres eigenen Landes – und zudem ein klares Zeichen der Verbundenheit in schwierigen Zeiten setzen.

Er weist darauf hin, dass die Gruppe der Jugendlichen aus der Ukraine an hessischen Schulen größer ist als die Gruppe aller in den vergangen zwei Jahren geflüchteten Schüler aus den zehn weiteren häufigsten Herkunftsländern zusammen.

Erprobungsphase startet mit Beginn des neuen Schuljahrs

Ab Herbst 2024 soll Ukrainisch als zweite Fremdsprache gemäß den rechtlichen Grundlagen zunächst als Schulversuch (Pilot) angeboten werden. Übers Land verteilt werden erste Schulen, an denen viele ukrainische Schüler unterrichtet werden, eine Erprobungsphase starten.

Selbstverständlich dürfen auch Jugendliche ohne ukrainischen Familienhintergrund das Angebot wahrnehmen.

„Brücke für Rückkehr in Ukraine“?

Der Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales und Entbürokratisierung in Hessen, Manfred Pentz, betont:

Wir wussten von Anfang an, dass der Kampf um die Freiheit in der Ukraine lang sein wird. Deshalb ist es konsequent, den ukrainischen Schülerinnen und Schülern auch ein Angebot zu machen, neben Deutsch auch ihre Muttersprache in der Schule zu lernen. Es ist ein Zeichen der Verbundenheit mit der Ukraine.

Es ist aber auch ein Beitrag, dass die Identität und Kultur der Ukraine erhalten bleibt. Denn wir wollen die ukrainischen Flüchtlinge nicht entwurzeln, sie gerade nicht von ihrer Heimat abschneiden, sondern ihnen eine Brücke für eine Rückkehr in die Ukraine bauen.

Ukrainischer Botschafter: „beispielgebende Entscheidung“

Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Oleksii Makeiev, dankt dem Land Hessen und Bildungsminister Schwarz für die „beispielgebende Entscheidung“ und erklärt dazu:

Wir betrachten es als eine Anerkennung des Ukrainischen als wichtige europäische Sprache. Dies wird der Entlastung unserer Schülerinnen und Schüler dienen, die derzeit in Hessen Schutz vorm russischen Krieg gefunden haben, und allen anderen Ländern in Deutschland ein gutes Vorbild sein.

Bisher ist es für viele ältere ukrainische Jugendliche ein Problem, dass mit der Ausreise nach Deutschland ihr bisheriger Bildungsweg ein jähes Ende findet.

Neben Englisch, das als erste Fremdsprache in der Ukraine in der Regel ab der Grundschule gelehrt wird, müssen die geflüchteten ukrainischen Kinder in kurzer Zeit für den gesamten Unterricht Deutsch lernen.

Russisch als zweite Fremdsprache scheidet für Ukrainer aus

Als erforderliche zweite Fremdsprache für die gymnasiale Oberstufe käme für Ukrainer, wenn man ihnen entgegenkommen möchte, allenfalls Russisch in Frage.

Zwar befinden sich viele Russisch-Muttersprachler unter den ukrainischen Flüchtlingen, aber die Kultursprache des großen Brudervolks im Osten wird seit der Unabhängigkeit der Ukraine als eine Art Kolonialherren-Sprache verschmäht und mit immer neuen Gesetzen und Verordnungen zurückgedrängt.

Die Hoffnung in Hessen ist, dass die Einführung von Ukrainisch als zweiter Fremdsprache adäquate Bildungswege mit höher qualifizierten Abschlüssen ermöglicht. Denn viele Fachkräfteberufe setzen einen weiterführenden Schulabschluss voraus, für dessen Erwerb eine zweite Fremdsprache verlangt wird.

Ukrainisch-Lehrkräfte für Schuldienst in Hessen gewinnen

Der Bildungsminister hat aber nicht nur die Schüler, sondern auch die Ukrainisch-Lehrkräfte im Blick. Armin Schwarz:

Neben den Jugendlichen und der Gewinnung der zumeist gut ausgebildeten Eltern als volle Kräfte für den Arbeitsmarkt könnte das Land weitere der in Deutschland lebenden ukrainischen Lehrerinnen und Lehrer für den Schuldienst gewinnen.

Oftmals decken die Lehrkräfte aus der Ukraine, die – wie es heißt – „erfahrungsgemäß schnell in deutscher Sprache unterrichten können“, zusätzlich Fächer wie Deutsch als Zweitsprache, Physik, Chemie, Mathematik, Musik, Kunst oder Sport ab, in denen ebenfalls ein Lehrermangel besteht. Sie würden damit „spürbar zur Unterrichtsversorgung beitragen“.

Vielfältiges Fremdsprachenangebot in Hessen

Das Bundesland Hessen hat mit Ausnahme der südasiatischen Sprachen, die auf einen engen Sprachraum begrenzt sind, die zehn meistgesprochenen Sprachen der Welt sowie alle sechs Amtssprachen der Vereinten Nationen in seinem Fremdsprachenportfolio an den Schulen.

Derzeit können gewählt werden: Englisch (1./2. Fremdsprache), Französisch, Latein, Spanisch (1./2./3.), Italienisch, Russisch, Chinesisch, Polnisch, Arabisch, Portugiesisch (2./3.), Altgriechisch (3.). Hintergrund zu Polnisch: Im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag (im Jahr 1991 verabschiedet) haben sich beide Nationen u. a. gegenseitig zur Pflege der jeweils anderen Sprache verpflichtet.

Gescheiterter Schulversuch mit Türkisch

Bei aller Begeisterung für die Initiative zur ukrainischen Sprache muss allerdings bedacht werden, dass die Fremdsprachen-Entscheidungen der Schüler kaum planbar sind. Niemand kann gezwungen werden, Ukrainisch als zweite Fremdsprache zu wählen – auch nicht ein ukrainischer Schüler. Wenn dieser nach Englisch lieber Spanisch oder Französisch lernen möchte, sind die Bildungspolitiker machtlos.

Außerdem wird die zweite Fremdsprache oft bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder abgewählt. Die Schüler wissen, dass sie mit einem „Laberfach“ wie etwa Soziologie mit geringerem Lernaufwand bessere Noten erzielen können. Und für die Einsicht, dass man Fremdsprachen, für die man in der Schule nicht zumindest die Grundlagen gelegt hat, nie mehr im späteren Leben lernt, fehlt den meisten die geistige Reife.

Das hat sich zuletzt bei dem vor allem von den Grünen jahrelang propagierten und herbeigesehnten Schulversuch mit Türkisch gezeigt. Die Hoffnungen waren groß, dass angesichts der seit Jahrzehnten in Deutschland fest verankerten größten Migrantengruppe an sehr vielen weiterführenden Schulen Türkisch-Kurse eingerichtet werden können.

Doch man hatte die Rechnung ohne die Schüler gemacht. Nur an einer Schule in Kassel kam ein Kurs für Türkisch als zweite Fremdsprache zustande – mit sieben Teilnehmern. An einer zweiten Schule in Lollar bei Gießen hatten sich mit lediglich zwei Interessierten zu wenig Schüler gemeldet. Über diesen 2022 gestarteten Pilotversuch hinaus haben offenbar keine weiteren Schulen ihr Interesse und einen Bedarf angemeldet.

„Der Schulversuch wurde stark beworben und in Abstimmung mit den Staatlichen Schulämtern wurden zahlreiche Schulen mit einem großen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit türkischer Staatsbürgerschaft und türkischem Migrationshintergrund eigens dafür angesprochen“, heißt es aus dem Ministerium.

Entscheidend für eine erfolgreiche Erprobung und flächendeckende Umsetzung ist letztendlich, dass sich genügend Schüler ernsthaft und dauerhaft für eine Fremdsprache interessieren, die im Fall von Türkisch und Ukrainisch die eigene Muttersprache ist. Zwingen kann man sie dazu aber nicht.

Ukraine trotz endlosem Krieg als EU-Mitglied fest eingeplant

Hessen will mit dem neuen Angebot auch „einen wichtigen Beitrag zum gemeinsamen europäischen Selbstverständnis sowie für die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Land“ leisten, wie es in einer Pressemitteilung heißt.

Darin wird auch darauf verwiesen, dass Mitte Juni 2024 in Berlin die Ukraine-Wiederaufbaukonferenz stattfinden wird. Und dass bereits im Dezember 2023 die EU-Führungsspitzen beschlossen haben, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Auch die Vorbereitungen zur Ausbildung von Ukrainisch-Dolmetschern und -Übersetzern für die EU-Institutionen sind längst angelaufen.

All dies geschieht, obwohl ein Ende des 2014 begonnenen und 2022 in seine „heiße Phase“ getretenen Kriegs um die Ukraine nicht absehbar ist dieser sich noch weitere Jahrzehnte hinziehen könnte.

Die meisten werden vermutlich in Deutschland bleiben

Im Gegensatz zu den Ukrainern selbst ist den deutschen Politikern klar, dass die meisten dauerhaft hier bleiben werden. Weil die Zukunftsperspektiven in Mitteleuropa trotz des allgemeinen Niedergangs immer noch weit besser sind als in der verwüsteten, entvölkerten und geteilten Heimat im Osten.

Die mehr als eine Million überdurchschnittlich gebildeten „Premium-Flüchtlinge“ aus der Ukraine, die allein in Deutschland aufgenommen wurden, werden von der Wirtschaft des Gastlands dringend benötigt.

Eine Integration in die deutsche Gesellschaft scheint angesichts gemeinsamer europäischer Werte im Gegensatz zu Flüchtlingen aus anderen Herkunftsländern problemlos möglich zu sein.

Mehr zum Thema

Richard Schneider