Die Ukraine als Objekt russischer Großmachtansprüche: Sprachen, Identitäten und Diskurse

Ukraine-Flagge
Bild: Muhammad Imran / Pixabay

Als am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, waren die Überraschung und der Schock groß, dass plötzlich wieder Krieg in Europa herrscht. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 hatten die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine immer wieder ihrem deutlich gesteigerten Sicherheitsbedürfnis gegenüber Russland Ausdruck verliehen.

Und doch musste sich gerade auch die deutsche Politik im Frühjahr 2022 eingestehen, in der Bewertung des russischen Präsidenten Vladimir Putin und seiner politischen Ambitionen über viele Jahre hinweg von enormen Fehleinschätzungen ausgegangen zu sein.

Mit dem Open-Access-Sammelband Die Ukraine als Objekt russischer Großmachtansprüche – Sprachen, Identitäten und Diskurse verbinden die beiden Herausgeber Prof. Dr. Rainer Goldt und Prof. Dr. Björn Wiemer vom Institut für Slavistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) das Ziel, zu den Hintergründen des Ukraine-Kriegs aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven beizutragen. Der Band richtet sich explizit an eine interessierte breite Leserschaft, auch ohne spezifische Vorkenntnisse.

„Deutschland und Russland verbindet seit Jahrhunderten eine wechselvolle Geschichte. Allein im 20. Jahrhundert reichte das vielschichtige politisch-historische Beziehungsgeflecht von Paktieren und Verrat über Krieg und Vernichtung bis hin zu strategischer und zeitweise sogar freundschaftlicher Annäherung – mit jeweils unterschiedlich starker Ausprägung auf kultureller, wirtschaftlicher und sprachlicher Ebene“, so Prof. Dr. Rainer Goldt, der an der JGU russische Literatur- und Kulturwissenschaft lehrt sowie unter anderem zu russischer Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert forscht.

Mit der scheinbar kontinuierlich fortschreitenden Entspannung des deutsch-russischen Verhältnisses haben sich insbesondere seit den 2000er-Jahren schleichend auch – teils historisch tradierte – Fehlannahmen und Zerrbilder in weiten Teilen der deutschen Politik und Gesellschaft festgesetzt, die es generell und natürlich insbesondere vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs kritisch zu betrachten gilt.

„Dazu möchten wir mit dem Band Die Ukraine als Objekt russischer Großmachtansprüche einen Beitrag leisten – ohne dass die Erklärungen, die wir präsentieren, auch nur ansatzweise als Rechtfertigung der Verbrechen Putins und seines Regimes dienen“, betont Goldt.

Die meisten Aufsätze des Bandes gehen auf die digitale Vortragsreihe „Ukraine im Fokus“ im Sommersemester 2022 an der JGU zurück, die von Prof. Dr. Björn Wiemer, Professor für Slavische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Polnisch und Russisch, initiiert wurde und deren Videoaufzeichnungen online abrufbar sind.

„In dieser Vortragsreihe war uns daran gelegen, einem breiten Publikum überhaupt erst einmal die Ukraine in ihren verschiedenen Facetten vorzustellen – von Geschichte und Politik über Sprache und Kultur bis hin zu Philosophie und Literatur. Denn in der Tat war und ist es nach wie vor so, dass das post-sowjetische Bild in Deutschland stark russozentrisch geprägt ist, sogar in der deutschsprachigen Slavistik“, so Wiemer. „Umso wichtiger ist es, dass wir als Slavisten unsere fundierten Fachkenntnisse in eine kritisch-reflektierte Einordnung aktueller Geschehnisse und –vermeintlicher – Rechtfertigungen einfließen lassen und auch für Interessierte ohne spezifische Vorkenntnisse verständlich kommunizieren.“

So geht es im Aufsatz von Jan Patrick Zeller und Gerd Hentschel beispielsweise um die sprachliche Situation an der ukrainischen Schwarzmeerküste im Jahr 2020 – und darum, inwiefern der Kreml im Frühjahr 2022 ein verzerrtes Bild von den drei traditionell russischsprachig dominierten Oblasten Odesa, Mykolajiv und Cherson zeichnete und nach wie vor zeichnet.

Sabrina Natmessnig, Tilmann Reuther und Yevheniia Lytvyshko blicken auf die Sprachenpolitik in der Ukraine zwischen 1922 und 2022, insbesondere gestützt auf Gesetzestexte und offizielles Schriftgut. Indem sie politische Geschichte mit sprachenpolitisch relevanten Texten in Verbindung setzen, zeigen sie, durch welche Maßnahmen und Begrifflichkeiten die Ukraine zunächst als Teil der Sowjetunion und dann ab 1991 als unabhängiger Staat geprägt wurde.

Der Sprachwissenschaftler Björn Wiemer präsentiert in seinem Beitrag einerseits einen Einblick in die Geschichte der ostslavischen Sprachen (Russisch, Ukrainisch und Belarussisch), andererseits die Besonderheiten der Struktur und der Entstehungsgeschichte der russischen Standardsprache. Damit liefert er ein starkes wissenschaftliches Gegenargument zu Putins Aussage der vorgeblichen Einheit der gesamten ostslavischen Bevölkerung unter russischer Vorherrschaft.

Rebecca Krug stellt die Bewegung des Neoeurasismus des ultranationalen Wortführers Aleksandr Dugin vor, der oft als „Philosoph“ oder „Vordenker“ des russischen Präsidenten Vladimir Putin bezeichnet wird. Er ist Ideengeber der extremen Neuen Rechten in Russland und propagiert einen eurasischen Imperialismus, den Krug unter besonderer Berücksichtigung von Dugins Ukraine-Thesen mit den geopolitischen Ambitionen der neoeurasischen Bewegung und Aussagen Putins vergleicht.

Rainer Goldt untersucht in seinem Beitrag hegemoniale Geschichtsmythen und philosophische Narrative im russischen Ukrainediskurs, aus denen sich Putin zur scheinbaren ideologischen Legitimierung seiner imperialen Politik bedient – angefangen beim Topos des ukrainischen Verräters bis zur Ukraine als Spielball westlicher Mächte.

Die Ukraine als Objekt russischer Großmachtansprüche

Bibliografische Angaben

  • Björn Wiemer, Rainer Goldt (Hg., 2024): Die Ukraine als Objekt russischer Großmachtansprüche: Sprachen, Identitäten und Diskurse. Berlin: Frank & Timme. 364 Seiten, als gedrucktes Buch 59,80 Euro, ISBN 978-3-7329-8963-8.
  • Kostenloses PDF des Buchs im Open Access. Die Open-Access-Veröffentlichung wurde mit Unterstützung durch die inneruniversitäre Forschungsförderung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz realisiert.

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Kathrin Voigt (JGU)