„Mit der Verbannung der ukrainischen Sprache glaubte die russische Regierung auch das Volk getötet zu haben“

Europa 1917
Die Staatsgrenzen in Mittel- und Osteuropa zur Zeit der ukrainischen Emanzipationsversuche 1917. Lemberg war noch österreichisch und die Krim russisch. - Bild: Wikipedia

In der Ukraine versuchen ultranationalistische Kräfte schon seit der Unabhängigkeit 1991, die russische Sprache zurückzudrängen, zu verbieten und letztendlich auszumerzen. Obwohl es sich nach der Volkszählung von 2001 um die Muttersprache von 29,6 Prozent der 41 Millionen Ukrainer handelt.

Auf die gleiche Weise hat Russland schon im Zarenreich die ukrainische Sprache aus dem öffentlichen Leben verbannt und verboten. Allerdings nur mit vorübergehendem Erfolg, wie sich 1917 nach der Februarrevolution und dem Sturz des Zaren in Russland zeigte. Denn plötzlich war das ukrainische Nationalbewusstsein trotz jahrzehntelanger Russifizierung des Landes wieder da.

Das beschreibt ein Artikel aus dem Pforzheimer Anzeiger vom 25. August 1917:

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Das „Algemeen Handelsblad“ veröffentlicht einen geschichtlichen Rückblick und eine Würdigung der ukrainischen Bewegung, in der es heißt:

Die Ukraine hat sich selbständig erklärt. Die Erklärung ist in Rußland mit Erstaunen aufgenommen worden. Denn es gab doch keine Ukraine mehr! Ein Ukas [Erlass mit unmittelbarer Gesetzeskraft] vom 30. Mai 1876 hatte sie einfach verboten. Der Zar wollte nichts mehr davon hören und seine Regierung hatte die Ukraine mit einem Federstrich als erledigt erklärt.

Der Ukas verbot die Ausgabe oder Einführung ukrainischer Werke, die ukrainische Sprache an Theatern und zu Vorträgen, das Drucken ukrainischer Texte auf Musikausgaben. In den Schulen, vor Gericht und in den amtlichen Büros wurde der Gebrauch der ukrainischen Sprache verboten. Einer Bevölkerung von 29 Millionen Ukrainern wurde ihre Sprache genommen.

Und mit der Verbannung der ukrainischen Sprache glaubte die russische Regierung auch das Volk getötet zu haben. Und nun steht sie plötzlich einer Bewegung mit starken, gut vorbereiteten und vollkommen bewußten politischen Zielen gegenüber. Denn die Ukrainer wollen keine Russen mehr sein. Sie schneiden das Tischtuch entzwei und fordern Selbständigkeit für ein Gebiet von 840.000 Quadratkilometer, für eine Bevölkerung von 30 Millionen Seelen, für ein Volk, das unter den slawischen Völkern den zweiten und unter den Völkern Europas den sechsten Platz einnimmt, für ein Land, das trotz zwei Jahrhunderten von Unterdrückung und Russifizierung nie die Hoffnung und das Vertrauen auf Unabhängigkeit verloren hat.

Dies Ereignis ist von so großer Bedeutung, daß ihm wohl besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden darf. Ein Volk von 30 Millionen Menschen, das im Begriffe ist, sein Nationalbewußtsein in die Tat umzusetzen, das Selbständigkeit und eigene Regierung verlangt, vermag das Gleichgewicht der Kräfte in unserem Weltteil auf seltsame Art zu verschieben. Das gesamte Staatenbild Europas kann dadurch verändert werden.

Diesmal wird die ukrainische Rada nicht so schnell ihr Ende erleben wie im Jahre 1905. Damals stand die Ukraine einem schnell wieder Macht und Ansehen gewinnenden russischen Staate gegenüber. Damals fand sich die Ukraine auch wie Finnland um ihr in die russische Regierung gesetztes Vertrauen schändlich betrogen. … Den Reichtum Rußlands bildet der Reichtum der Ukraine. Ein Rußland, das von der Ukraine getrennt ist, hat keinen Zugang mehr zu den wichtigen Meeren. Sogar die Dardanellen haben dann für Rußland keinen Wert mehr. Es ist seiner ganzen Eisen- und Steinkohlenproduktion und namentlich seiner großen Kornkammer beraubt.

Und dies ist eine natürliche Folge des dauernden Unterdrückungssystems der Zarenregierungen. Zwar machen die großen Städte in der Ukraine – Kiew, Charkow unter anderen – einen großrussischen Eindruck. Das ist aber nur äußerer Schein. Gleichwie der ukrainische Adel sich russifizieren ließ, ist später die Bürgerschaft in den Städten der russischen Richtung gefolgt, die Bevölkerung jedoch, sowie das Proletariat in den Städten unterlagen nicht oder nur wenig russischen Einflüssen.

Hier hat das Nationalgefühl sich verläßlich und sicher ausleben können, und seitdem nun die Gebildeten die Leitung übernehmen, folgen alle den Weg, der ihnen gewiesen wird.

So haben die Städte sich durch die ukrainische Landbevölkerung erobern lassen: die oberflächlich russifizierte „Gesellschaft“ sieht deutlich, daß das ukrainische Volk eine Macht geworden ist und tritt in die Führung ein, weil diese Aussicht für politischen Aufstieg bietet.

Es bleibt nur noch abzuwarten, ob die provisorische Regierung in Petersburg stark genug erscheinen wird, um diesem Streben nach Trennung die Stirn zu bieten.

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Ukraine 1917
Quelle: Deutsches Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek

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Richard Schneider