Es gibt im deutschen Sprachraum zum Stichtag 24. Juni 2024 mindestens 1.161 „Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache“. Diese Zahl hat Wolf Peter Klein, Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Würzburg, anhand der „Leitfadensammlung V.2“ von Daniel Elmiger (Universität Genf) recherchiert.
Klein präsentierte seine Ergebnisse am 28. Juni 2024 auf der Veranstaltung „Gender in Grammatik und Sprachgebrauch“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
Hälfte der Leitfäden wurde an Universitäten erstellt
Ungefähr die Hälfte der Regelwerke zur Umsetzung einer „geschlechtergerechten Sprache“ entfällt auf Universitäten (598 von 1.161 Leitfäden), der Rest verteilt sich auf Behörden und Unternehmen.
Keine Sprachwissenschaft, sondern Laienlinguistik
Zum inhaltlichen Profil der Schriften erläutert Klein, dass es sich nicht um sprachwissenschaftliche Stellungnahmen handle – auch nicht bei den universitären Leitfäden. Vielmehr seien diese Schriften Werke der „Laienlinguistik“.
Inhaltlich positionieren sie sich laut Klein vor allem gegen etwas:
- gegen die althergebrachte Sprache, die als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird,
- gegen die generischen Formen, deren geschlechtsübergreifende Bedeutung und Verwendung nicht mehr verstanden und geleugnet wird.
Keine Unterscheidung zwischen Genus, Sexus und sozialem Geschlecht
In den Texten werde nicht systematisch zwischen sprachlichem Genus und natürlichem bzw. sozialem Geschlecht unterschieden. Eine Unterscheidung zwischen natürlich-sozialen und sprachlichen Kategorien finde nicht mehr statt.
Das Ziel sei eine „Verankerung des natürlich-sozialen Geschlechts in sprachlichen Kategorien (v. a. nominale Flexionsmorphologie, Pronomina, graphematische Markierungen, Lexik)“.
Keine einheitliche „geschlechtergerechte“ Sprache
Festzuhalten sei auch, dass keine einheitliche „geschlechtergerechte“ Sprache existiere, sondern jeder Leitfaden seine eigene Variante präsentiere.
Gemeinsam sei allen Leitfäden eine „starke moralisch-theoretische Aufladung der Sprache mit Gehalten der Wahrnehmungs- und Gesellschaftslenkung“. Die Autoren seien der Ansicht, Sprache präge unsere Wahrnehmung der Welt und bestimme unser Handeln.
Gendern als Top-down-Prozess
Hierarchisch seien die Sprachvorgaben in der Regel in höheren Instanzen der jeweiligen Institutionen verankert. Sie würden oft explizit von Leitungspersönlichkeiten gestützt. Dabei berufe man sich auf juristische Texte wie das Grundgesetz, Gleichstellungsgesetze, Gerichtsbeschlüsse.
Die stark vernetzten Institutionen würden versuchen, ihre sprachpolitischen und sprachmoralischen Ansprüche in einem Top-down-Prozess durchzusetzen, d. h. von oben nach unten. Gleichzeitig werde oft postuliert, es handle sich um eine gesellschaftliche Bewegung.
Sprache als Werkzeug zur Verfolgung gesellschaftspolitischer Ziele
Gender-Leitfäden seien weder eine Form der deskriptiv-beschreibenden Sprachthematisierung noch eine Form der präskriptiv-vorschreibenden Sprachthematisierung. Bei den Publikationen handle es sich stattdessen um eine „Form der ambitionierten Sprachbetrachtung“. Sprache werde mit der Absicht thematisiert, sie „grundlegend und flächendeckend“ zu ändern.
Kein Zwang, sondern nur Empfehlung?
Einen Zwang zum Gendern vermag Klein nicht zu erkennen. Die Regelungen hätten den Charakter von Empfehlungen.
Richard Schneider