
Über Jahrhunderte war das Dolmetschen vor Gericht eine Männerdomäne. Das änderte sich erst peu à peu im 20. Jahrhundert.
Und so war es vor 115 Jahren selbst im weit von Innsbruck entfernten Solingen eine Zeitungsmeldung wert, als in Österreich erstmals eine Frau für die Sprachmittlung in der Justiz herangezogen wurde.
Im Ohligser Anzeiger (Stadtteil von Solingen) findet sich am 9. April 1910 folgende kurze Notiz auf der Seite „Das Reich der Frau“:
Der erste weibliche Gerichtsdolmetscher in Oesterreich
In Oesterreich ist den Frauen wiederum ein neuer Berufszweig erschlossen worden. Zum ersten Male wurde eine Frau als weiblicher Gerichtsdolmetscher angestellt. Es ist Frau Hermine v. Vogl, die vom Landesgericht in Innsbruck als englischer Dolmetscher vereidigt wurde.

Sprachlehrerin war für Englisch und Italienisch vereidigt
Wie Recherchen des österreichischen Gerichtsdolmetscherverbandes ÖVGD ergaben, war die „eidlich verpflichtete Dolmetscherin“ Hermine v. Vogl zunächst für Englisch und ab 1914 auch für Italienisch tätig.
Die Dolmetschtätigkeit vor Gericht blieb für sie jedoch eine Nebentätigkeit. Im Hauptberuf arbeitete sie weiterhin in ihrem erlernten Beruf als Sprachlehrerin. An ihre Ausbildung an der Lehrerinnenbildungsanstalt in Innsbruck schloss sie noch ein Studium moderner Sprachen an, das sie mit der Staatsprüfung für Englisch abschloss.
Die nach ihrer Heirat unter dem Namen Hermine Lercher auftretende Frau war offenbar vielfältig engagiert. So leitete sie Sprachkurse für die 1911 gegründete „Vereinigung für arbeitende Frauen“, deren stellvertretende Vorsitzende sie 1913 wurde.
Die Tätigkeit als Gerichtsdolmetscherin übte sie offenbar bis ins hohe Alter aus. Zumindest wurde sie noch 1961 in der Liste der Innsbrucker Gerichtsdolmetscher geführt.

Nicht die erste, sondern die zweite Gerichtsdolmetscherin
Allerdings fand der ÖVGD heraus, dass Hermine v. Vogl nicht die erste Gerichtsdolmetscherin Österreichs war, sondern die zweite. Vor ihr nahm bereits Wilhelmine Jütting im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien ihre Tätigkeit als Dolmetscherin für die niederländische Sprache auf.
Weshalb sich die Medien damals auf v. Vogl fokussierten, obwohl diese in der Provinz tätig war, während Jütting in der Hauptstadt wirkte, bleibt unklar.
Richard Schneider