
Mehr als acht Jahre lang hat sich Olivier Mannoni mit der Neuübersetzung von Hitlers Mein Kampf befasst. Diese erschien 2021 im Rahmen einer kritisch-wissenschaftlichen Ausgabe in Frankreich. Neben der Programmschrift des späteren Reichskanzlers hat Mannoni bereits mehr als 50 Werke zum Thema Nationalsozialismus ins Französische übertragen.
Wäre Mannoni zu Gast bei Markus Lanz, würde der Talkshow-Moderator wahrscheinlich die Hand ans Kinn legen, nachdenklich die Stirn runzeln, dem in Frankreich recht bekannten Übersetzer tief in die Augen schauen und fragen: „Was macht das mit einem?“
Antworten darauf hat Olivier Mannoni 2022 in einem Band mit dem Titel Traduire Hitler gegeben. Jetzt ist der Essay auf Deutsch erschienen, übersetzt von Nicola Denis.

„Warum habe ich nicht gezögert, mich auf eine solche Quälerei einzulassen?“
In der Leseprobe des Verlags schildert Mannoni, wie ihm das Übersetzungsprojekt angeboten wurde:
Als mich ein Lektor vom Verlag Fayard anrief, […], um mir vorzuschlagen, Hitlers Wälzer neu zu übersetzen – siebenhundert Seiten, um deren Erbärmlichkeit ich wusste –, zögerte ich keinen Moment. Den orangefarbenen Band in meiner Bibliothek, die 1934 im Verlag Nouvelles Éditions latines (NEL) erschienene Ausgabe von Mein Kampf, hatte ich bisher nur selten benutzt.
Die Übersetzung entspricht den damaligen Standards: gut lesbar und flüssig. An sich zwei grundsätzlich nachvollziehbare Prinzipien, abgesehen davon, dass das Original komplett unlesbar und nur in den wagnerhaften Passagen, in denen sich der Autor von seinem Überschwang mitreißen lässt, einigermaßen flüssig ist. Die Übersetzung merzt alles Unlesbare aus – wie hätte es damals anders sein sollen? –, sie gibt das Unbeholfene der schwungvollen Passagen nicht entsprechend wieder.
Seither schaute ich jedes Mal, wenn ein deutscher Autor ihn in einem Werk zitierte, das ich gerade übersetzte, in den Originaltext, um meine eigene französische Fassung zu erstellen.
Warum habe ich nicht gezögert, mich auf eine solche Quälerei einzulassen? Nach knapp fünfzig Übersetzungen von Büchern, die sich mit der NS-Medizin, dem Antisemitismus, dem Holocaust durch Kugeln oder der Organisation der Konzentrationslager von Auschwitz und Birkenau befassten, war es nur konsequent, zur Quelle zurückzukehren. Und die Übersetzung von Mein Kampf resolut und in Gänze anzupacken und einen Text zu verfassen, der von Historikerinnen und Historikern, einer kundigen Leserschaft und Übersetzerkollegen benutzt werden konnte.
Ich willigte also ein, unter den üblichen Bedingungen, die ich für solche Projekte einfordere: keine „nackte“ Veröffentlichung des Ausgangstextes, sondern dessen Einrahmung durch einen fundierten, von Historikern erarbeiteten textkritischen Apparat.
Das alles geschah vollkommen rational. Nur das Problem entpuppte sich als nicht ganz so rational. Ich hatte vergessen, dass das, was mir – unabhängig von den unguten Ausdünstungen – eine Quelle unter vielen zu sein schien, schon seit Langem nicht mehr einfach nur ein Buch war.
Ich hatte unterschätzt, dass ich an eine Art Fetisch rühren würde, an ein Objekt, das mit seiner Tragweite, seiner »unheilvollen Aura«, wie es manchmal hieß, schon lange mehr war als sein reiner Inhalt.


864 Seiten zum Preis von 100 Euro
Mannonis Neuübersetzung von Mein Kampf erschien 2021 in Frankreich im Verlag Fayard in einer 864 Seiten starken kritisch-analytischen Ausgabe, bei der die Kommentare und Fußnoten mehr Platz einnehmen als das Original.
Der Verkaufspreis von 100 Euro tut ein Übriges dazu, dass der vermeintlich gefährliche, aber weit überwiegend doch eher banale und langatmige Text nicht in die Hände von Jugendlichen gerät.
Ähnlich wie die 2016 in Deutschland erschienene zweibändige Ausgabe Hitler, Mein Kampf: Eine kritische Edition (1.966 Seiten, 79 Euro) handelt es sich um ein Werk für Historiker und Universitätsbibliotheken.
Bestseller-Potenzial besitzt weder die deutsche noch die französische Neuausgabe. Ziel war, den Originaltext verfügbar zu machen, ihn aber mit kritischen Anmerkungen einzuhegen.

Mannoni in Frankreich einer der bekanntesten Übersetzer aus dem Deutschen
Olivier Mannoni wurde 1960 in Tours in eine Germanisten-Familie geboren. Nach einem Literatur- und Philosophie-Studium sowie einigen Jahren im Journalismus fand er schließlich seine Berufung in der Literaturübersetzung. Schon seit Jahrzehnten gehört er zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Deutschen ins Französische.
Die Bandbreite der übersetzten Werke reicht von Franz Kafka und Stefan Zweig bis Sigmund Freud. Mannoni ist Stammübersetzer von Peter Sloterdijk und Byung-Chul Han.
Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bilden Bücher zum Nationalsozialismus, darunter Ernst Klees Deutsche Medizin im Dritten Reich und Joachim Fests Staatsstreich – Der lange Weg zum 20. Juli.
Neben seiner übersetzerischen Arbeit tritt Mannoni auch als Autor in Erscheinung. Er verfasste Biografien über Günter Grass und Manès Sperber.
Mit Schlussfolgerungen für die Gegenwart macht es sich Mannoni zu einfach
Mannoni wird von französischen und deutschen Medien gerne zitiert, weil er das sagt, was der Mainstream hören will: Die Sprache der Rechten (Trump, Le Pen, Orbán, Meloni, Höcke) erinnere an die Ausdrucksweise Hitlers. Erst 2024 hat er einen 177-seitigen Band dazu veröffentlicht: Coulée brune – Comment le fascisme inonde notre langue.
An Mannonis Feststellung ist durchaus etwas dran, aber inzwischen dürfte sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass man Politiker grundsätzlich nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten messen sollte.
So hat sich in Italien die als Postfaschistin gestartete Ministerpräsidentin als harmlose Konservative entpuppt. Und die Verteufelung von Trump als einem orangefarbenen Hitler ist mehr als acht Jahre alt und verfängt nicht mehr.
Déformation professionnelle?
Der Sprache eine übersteigerte Bedeutung beizumessen, scheint eine déformation professionnelle von Übersetzern, Journalisten und anderen Intellektuellen zu sein. Aber nicht jeder, der Volk statt Bevölkerung sagt, ist ein Nazi.
Der Glaube an die Macht der Sprache gipfelt auf der linken Seite des politischen Spektrums in der abstrusen Vorstellung, man könne mit Sprachvorschriften das Denken der Menschen bestimmen und letztlich auch die Wirklichkeit verändern. (Frau ist, wer sich als Frau bezeichnet.)
Der Sprachkampf des linken Spektrums fällt zunächst weniger auf als die polternde Ausdrucksweise der Rechten. Denn er kommt auf leisen Sohlen und mit moralischem Anspruch daher. Verpackt in eine an Universitäten entwickelte „achtsame“ und „geschlechtergerechte“ Sprache, die aber keinen Widerspruch duldet.
Natürlich ist es interessant und sinnvoll, die Sprache der Rechten zu analysieren, wie Mannoni dies tut. Zurzeit ist es aber vor allem die von oben verordnete Sprache der Linken, die die Gesellschaft spaltet und die von den Menschen zunehmend als übergriffig empfunden wird.
Bibliografische Angaben
- Olivier Mannoni (2025): Hitler übersetzen. Hamburg: Harper Collins. Aus dem Französischen von Nicola Denis. 144 Seiten, 22,00 Euro, E-Book 19,99 Euro, ISBN 9783365008157. Bei Amazon bestellen.
- Olivier Mannoni (2022): Traduire Hitler. Paris: Éditions Héloïse d’Ormesson. 123 Seiten, 15,00 Euro, ISBN 978-2350878393. Bei Amazon bestellen.
- 2023-08-02: Stresemanns und Hitlers Dolmetscher Paul Schmidt: „Ein Seitensprung in die Politik, den ich nicht bedaure“
- 2013-05-29: „Er ist wieder da“ – Übersetzerwerkstatt mit Timur Vermes am EÜK Straelen
Richard Schneider