Neurolinguistik: Verschiedene Hirnareale für Syntax und Semantik?

Gehirn
Bild: Elisa Riva / Pixabay

Franz Josef Gall nahm Ende des 18. Jahrhunderts an, dass die Fähigkeit zur Worterkennung und -speicherung im Stirnlappen lokalisiert werden müsse. Je begabter ein Mensch, desto voluminöser das entsprechende Areal im Frontalhirn. Durch den erhöhten Platzbedarf werden die Augen aus dem Schädel herausgedrückt. Diese sog. Lokalisationstheorie, nach der ein Sprachzentrum im Frontallappen existiert, stieß auf viele Anhänger wie beispielsweise Pierre Paul Broca, den Namensgeber des Broca-Areals. Das Broca-Areal im Stirnlappen der Großhirnrinde galt als Ort der Sprachproduktion. Hier verortete man später die Grammatikzentrale des Gehirns. Im Wernicke-Areal des Schläfenlappens wurde das Sprachverständnis lokalisiert.

Zu den Gegnern gehörte Sigmund Freud, der sich in seinem 1891 erschienenen Buch Zur Auffassung der Aphasie gegen die Lokalisationstheorie aussprach. Doch Freuds Argumente wurden aufgrund seiner umstrittenen psychoanalytischen Denkweise geringgeschätzt. Aus diesem Grund hat die Lokalisationsperspektive, nach der sich die Grammatik hirnphysiologisch von anderen Aspekten der Sprache strikt trennt, seit vielen Jahrzehnten Bestand. Inzwischen gilt dieser Ansatz aber als überholt.

Mitteleuropäer sind es gewohnt, Sprachen in ihre einzelnen Bestandteile, das bedeutet also Grammatik, Bedeutung von Wörtern und Aussprache aufzuspalten. Dieses Baukastenprinzip stammt von der griechisch-römischen Grammatiktradition. Vor 2000 Jahren unterschied diese zwischen der Syntax und der Semantik. Auch die moderne Neurolinguistik war der Ansicht, dass unser Denkorgan im Umgang mit Sprache diesem Baukastenprinzip folge. Begründet wurde dies damit, dass z. B. Sinnesbrüche eine vollkommen andere Hirnreaktion auslösen als grammatisch falsch gebildete Sätze.

Die Neurowissenschaftler Marta Kutas und Steven Hillyard von der University of California in San Diego berichteten im Jahre 1980, dass der wenig sinnvolle Satz „He spread the warm bread with socks“ („Er bestrich das arme Brot mit Socken“), in dem zwei plausible Handlungsteilnehmer in der verkehrten Relation im Satz auftauchen, bei Probanden ein bestimmtes Signal in den elektrischen Hirnstrommustern, das N400, hervorruft. Dieses unterscheidet sich jedoch von der Reaktion auf einen grammatischen Fehler (Singal: P600). Dies scheint darauf hinzuweisen, dass die neuronale Sprachverarbeitung Syntax (Form) und Semantik (Bedeutung) voneinander trennt.

Die hirnphysiologischen Beobachtungen schienen auch Linguisten in ihren Forschungen zu bestätigen. Der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky vertrat eine syntaxdominierte Grammatikperspektive, wonach sich der Sinn eines Satzes aus der Grammatik erschließe. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Ein deutscher Muttersprachler weiß, dass in der Aussage „Der Junge jagt den Bär“ der Junge aktiv handelt. Diese Erkenntnis basiert darauf, dass der Junge das grammatische Subjekt des Satzes ist. Demzufolge kann auch die Syntax eine sprachliche Bedeutung haben, da sie Handlungsrollen verteilt. Die Beobachtung einer bestimmten Hirnreaktion auf grammatische Unstimmigkeiten schien hervorragend zu den Annahmen zu passen.

Im Jahr 2003 stellten das Team um den Neuropsychologen Herman Kolk von der Universität Nimwegen und die Psychiaterin Gina Kuperberg vom Masachusetts General Hospital in Boston (USA) unabhängig voneinander neue, revolutionäre Ergebnisse vor. Versuchspersonen hörten Sätze wie „Der Kuchen bäckt der Konditor“. Diese Äußerung ist ebenso fehlerhaft und sinnlos wie das oben angeführte Beispiel, in denen jemand Brot mit Socken bestreicht. Doch der Unterschied besteht darin, dass das Brot und die Socken nicht zueinander passen, während es sich beim Kuchen und Konditor anders verhält. Allerdings widerspricht unser Wissen nun der Information, die die Grammatik bereit stellt. Dem traditionellen Blickwinkel zufolge sollte der Satz „Der Kuchen bäckt der Konditor“, der eine bedeutungsbezogene Überraschung enthält, das Signal N400 auslösen. Stattdessen stellten die Forscher aus den Niederlanden und den USA das Signal P600 fest, das bisher der Grammatik vorbehalten war. Dies schien alles zu verändern.

So schlussfolgerten die Forscher daraus, dass das Gehirn bei komplexen sprachlichen Informationen zunächst einmal die Grammatik außen vorlässt und die Kombination der einzelnen Elemente in Betracht zieht, die mit seinem eigenen Vorwissen übereinstimmt. Aus den Wörtern „Kuchen“, „backen“ und „Konditor“ bildet er die Sätze „Der Konditor bäckt den Kuchen“ oder „Der Kuchen wird vom Konditor gebacken“. Erst danach merkt das Gehirn, dass der Ausgangssatz „Der Kuchen bäckt den Konditor“ nicht zur Bedeutung passt und daraufhin von einer grammatischen Fehlleistung ausgeht.

Der neue Erklärungsansatz stimmt zwar nicht mit Chomskys syntaxorientierten Sichtweise überein, gibt aber die Trennung zwischen sprachlichen Domänen nicht komplett auf. Sprachübergreifend zeigt sich nämlich keine klare Trennung zwischen grammatischen und bedeutungstragenden Informationen im Gehirn. Das bedeutet den Abschied vom Baukastenprinzip, da unser Denkorgan flexibler arbeitet als bislang angenommen. Diese Ergebnisse erschüttern das traditionelle Modell der Sprachanalysen, nachdem zahlreiche Neuroforscher lange Zeit davon ausgegangen waren, dass unser Gehirn Grammatik anders verarbeitet als die Bedeutung von Wörtern. Das Gehirn scheint zwischen Grammatik und Bedeutung nicht streng zu unterscheiden.

Text: Jessica Antosik. Quelle: Gehirn&Geist, Nr. 9/2011, S. 68-72